FÜNF

Siege und Wunder

»Wo ein Feind ist, wütet!

Wo ein Sieg ist, frohlockt!«

– Die Heilige Sabbat, Episteln

 

Überall waren Menschenmengen.

Der Tag war kaum angebrochen, aber die Straßen waren gerammelt voll. Wimmelnde Massen singender Pilger, feiernder Soldaten und frohlockender Städter verstopften die Straßen und Alleen der Civitas Beati in einem vereinten, lautstarken und überschwänglichen Ausdruck des Triumphs. Die verwundete Stadt war erwacht und hatte festgestellt, dass sie wunderbarerweise noch am Leben war.

Ausgedehnte schwarze Rauchwolken trübten das frühe Tageslicht und malten dunkle Flecken auf das kalte Weiß des Himmels. Die Außenbezirke im Norden der Stadt waren immer noch brennende Ruinen voller Fahrzeugwracks und ungezählter Leichen.

Eine erste Schätzung legte nahe, dass Hunderte von Soldaten und Einwohnern gestorben waren. Die Gemeinde der Pilger war am stärksten betroffen. Tausende hatten die furchtbare Nacht nicht überlebt.

Doch die Zahl der Toten und die Zerstörungen innerhalb der Civitas schienen niemanden in der Menge zu stören. Sie waren jetzt so unnormal aufgeregt, wie sie zuvor in den Nachtstunden unerklärlich niedergedrückt gewesen waren. Vielleicht einfach zu erklären, denn Menschen sind einfach gestrickte Wesen: Sie lebten noch, sie hatten gewonnen, und sie schwelgten darin.

Die größte Menschenmenge hatte sich auf der Beatiplaza eingefunden, viele Hunderttausend ausgelassene, jubelnde menschliche Wesen, die alle feierten und sangen und tanzten. Banner flatterten in der morgendlichen Brise, und weiße Blütenblätter flogen wie Konfetti aus den Girlanden um den Hälsen der Leute. Soldaten, deren grinsende Zähne unnatürlich weiß vor dem verkrusteten Dreck auf ihren Gesichtern wirkten, wurden umarmt und geküsst und auf den Schultern getragen. Trommeln schlugen. Die alten Gebetsverstärker der Stadt erschollen. Fabriksirenen heulten.

Leute standen auf Dächern und Balkonen oder winkten eifrig aus Dachgeschossfenstern. Wimpel und Feuerwerksraketen flogen in den Himmel. An mehreren Straßenecken in der Nähe der Plaza waren Infardi-Prediger auf die Karren ihrer Uhrenschreine gestiegen und animierten zu Gebeten und zum Absingen von Hymnen. Prozessionen der Ekklesiarchie, von Chören angeführt, trugen Reliquien aus den Makropolschreinen durch die Straßen. Ministorum-Arbeiter verstreuten Blüten und Knospen, die wahllos von den agroponischen Anlagen geerntet worden waren.

Als Gaunt den Teil der Plaza erreichte, wo die Menge am dichtesten stand, trug er Girlanden aus Islumbinen und Irridox um den Hals und war öfter umarmt und geküsst worden, als er zählen konnte. Seine Kleider waren zerfetzt, und er war mit Schnitten, Schrammen und Prellungen übersät. Er trug immer noch die Adler-Standarte, die er einem gefallenen RCB-Soldaten im dicksten Kampfgetümmel kurz vor Tagesanbruch abgenommen hatte.

Er fühlte sich seltsam benommen, desorientiert. Der Lärm der jubelnden Menge ringsumher kam ihm lauter und bedrückender vor als die bitteren Kämpfe der Nacht. Alles war wie ein Traum, aber er war davon überzeugt, dass dies nur an seiner Erschöpfung lag.

Auf der kalten, steinigen Ebene der Großen West-Obsidae hatte er im Lauf der Dämmerung bei dem Versuch geholfen, die feindlichen Streitkräfte auszulöschen. Es hatte kein Pardon gegeben, und das war auch gut so, denn der Blutpakt war ein ergebener und verschworener Diener des Erzfeindes der Menschheit.

Aber sie hatten die Feinde abgeschlachtet. Alle.

Auf den Glasfeldern jenseits der Nordwestgrenze der Stadt wimmelte es von Leichen und rauchenden Wracks von Kampffahrzeugen. Mit der Beati und dem neuen Kampfesmut konfrontiert, den sie in den Imperiumskriegern wachgerufen hatte, war der Blutpakt geflohen. Biagi und Kaldenbach, die anerkannten Sieger des Kampfes, hatten die Verfolger angeführt und den Feind in der Obsidae ausgelöscht. Nun würden die Winde der Eiswüste, die über dem Westlichen Schutzwall wehten, die Leichen des Blutpakts schrumpeln lassen, und der Bodenfrost würde ihr Fleisch gefriertrocknen. So würden sie als zerbrechliche Mumien zwischen den Trümmern ihrer Panzerwracks liegen bleiben, als Zeugnis des brutalen Eifers einer durch Glauben inspirierten Imperiumsarmee.

Gaunt erreichte die Plaza. Die Menge stand dicht gedrängt, teilte sich aber, um ihn durchzulassen. Pilger und Bürger der Stadt streckten die Hände nach ihm aus, um ihn zu berühren oder ihm auf die Schulter zu klopfen. Er hinkte und stützte sich auf den Bannerstab.

Sie stand in der Mitte der Plaza auf einem Chimäre und reckte der jubelnden Menge die Hände entgegen.

»Herr Kommissar! Herr Kommissar!« Gaunt sah sich um und wurde beinahe von Raglons enthusiastischer Umarmung umgeworfen.

»Wir hatten schon befürchtet, Sie seien tot, Herr Kommissar!«, rief Raglon.

»Das bin ich nicht, Rags.«

»Das sehe ich, Herr Kommissar. Gott-Imperator, ist das schön, Sie zu sehen! Was ist das für ein Tag! Was für ein Moment!«

Gaunt lächelte müde. Raglons Aufregung war ansteckend. Zu selten hatte er seine Männer von einfacher Siegesfreude erfüllt gesehen.

»Wie geht es Ihrem Trupp, Rags?«

»Ist in blendender Verfassung, Herr Kommissar.«

»Sie haben die Nacht gut überstanden?«

Raglon nickte eifrig. »Wir haben es bestens überstanden. Keine Verluste. Aber wir haben ihnen die Hölle gegeben. Ich schreibe einen Bericht … Belobigungen …«

»Ich freue mich darauf.«

Raglon wandte sich ab und schaute zur Mitte der Plaza. »Ich kann das gar nicht glauben, Herr Kommissar«, sagte er. »Ich meine … sie ist hier. Wirklich hier.«

»Ja, das ist sie, Rags«, sagte er. »Das ist sie wirklich. Genießen Sie den Augenblick. Solche gibt es nicht oft im Leben.«

Gaunt schaute die Heilige an, während sich Raglon lachend entfernte. Sie schien ihn direkt anzustarren.

 

»Ich bin froh und glücklich und alles, aber ich wünschte, sie würde damit aufhören.«

»Womit?«, fragte Feygor, der die Stimme hob, um sich trotz des Lärms verständlich zu machen.

»Mich so anzusehen«, erwiderte Rawne. Der dritte Trupp stand in der Menge genau gegenüber von Gaunt auf der anderen Seite der Plaza. »Sie hört einfach nicht auf, mich anzusehen.«

»Sie sieht mich an«, sagte Feygor. »Nicht Sie. Warum sollte sie Sie ansehen?«

»Das weiß ich doch nicht …«, sagte Rawne und verdrehte dabei die Augen.

»Ich schon«, sagte Banda. »Der Major ist Sex auf zwei Beinen, wie Katzenminze für uns Frauen.«

Feygor lachte. Rawne sah Banda verächtlich an.

»Aber ich enttäusche Sie nur ungern«, fuhr Banda fort. »Ihre Heiligkeit die Beati sieht tatsächlich mich an.«

 

»Ein guter Tag«, sagte Gol Kolea ruhig.

»Ja, Gol«, erwiderte Criid. Sie schlug ihm auf die Schulter. Die Jubelgesänge der Menge ringsum erreichten einen neuen Höhepunkt. Die Beati war eine entfernte Gestalt im Herzen der rappelvollen Plaza.

»Ein guter Tag«, wiederholte Kolea. »Sie sieht mich an und sieht mich und sieht, dass ich froh bin, dass es ein guter Tag ist.«

»Wer denn, Gol?«

»Die heilige Frau.«

»Aha.«

»He, Sergeant.« Criid schaute sich um und sah Jajjo, der sich einen Weg durch die Menge bahnte. »Ich habe ihn gefunden«, sagte er grinsend.

Caffran tauchte hinter Jajjo auf und drückte Criid sofort fest an sich.

»Ich dachte schon, ich hätte dich verloren!«, hauchte er, während er sie auf Hals und Wange küsste. Er hob eine Hand und berührte sanft den Verband um ihren Kopf.

»Du bist verletzt.«

»Nichts, was nicht wieder heilt. Kolea hat mich zu einem Sani gebracht.«

»Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich noch mal wiedersehe, Tona«, sagte Caffran.

»Es sind schon mehr als ein paar Blutpakt-Soldaten nötig, um mich von dir fernzuhalten«, erwiderte sie und begegnete seinem Mund mit ihrem.

»Ja, ja … doch nicht vor den Soldaten«, sagte Lijah Cuu im Vorbeigehen.

»Siehst du sie?«

»Natürlich sehe ich sie.«

»Dann sei dankbar«, sagte Colm Corbec, »dass dein kleiner Albtraum genau das war … ein kleiner Albtraum. Da ist sie. Lebendig und wohlauf und … heilig.«

Milo nickte. »Ja, das stimmt wohl. Sie ist erstaunlich. Sie scheint mich direkt anzusehen.«

»Dich? Doch wohl eher mich. Geradewegs mich.«

Milo lächelte. »Glauben Sie, was Sie wollen, Herr Oberst.«

»Ich glaube, das tue ich auch.«

»Dass sie Sie ansieht«, spöttelte Mkoll trocken. »Ich glaube ganz fest, dass sie mich ansieht.«

Die gewaltige Menge rings um sie brach plötzlich in donnernden Jubel aus, und die Geister in ihrer Mitte fielen ein.

»Ganz eindeutig mich«, murmelte Mkoll.

 

Larkin glotzte. Es war, als habe er sie in seinem Fadenkreuz und sie ihn in ihrem. Wäre es ein echtes Zielrohr mit Gewehr darunter gewesen, wäre es haarig gewesen. Neunzig Meter, Seitenwind und viele Hundert jubelnde Menschen zwischen ihm und ihr. Aber er hätte es geschafft. Larkin war ganz sicher.

Und noch sicherer, dass sie es auch geschafft hätte. Wie sie ihn ansah: wie ein Scharfschütze.

 

Hark schob sich durch die Menge. Er wäre fast über Daur gestolpert, der sich die Augen ausweinte, und stieß dann gegen Meryn, der nur gaffte.

»Meryn?«

»Sie ist echt.«

»Ich glaube, das ist die Grundidee, Sergeant.«

Neben ihnen war Sergeant Varl auf den Karren eines Uhrenschreins gestiegen und fing an zu tanzen, während er ein mit Struthidfedern verziertes Barett aufsetzte und es sich komisch über die Ohren zog.

Hark musste unwillkürlich lachen.

 

»Chef?« Vivvo reichte Soric den Nachrichtenzylinder aus Messing.

»Danke«, sagte Soric und schickte Vivvo mit einem Kopfnicken weg. Die Menge rings um sie drehte durch. Der Jubel war so laut, dass es ihn nervös machte.

Soric schraubte den Zylinder auf und benutzte seine Finger wie eine Pinzette, um den Zettel herauszufischen.

Darauf stand: Du bist es, den sie ansieht. Sie weiß Bescheid.

Soric ließ den Papierfetzen fallen und schob den Zylinder in seine Hosentasche.

Einen Moment später tauchte Vivvo wieder aus der tobenden Menge auf.

Er hielt ihm einen Nachrichtenzylinder hin.

»Ist das Ihrer, Chef?«, fragte er.

Soric klopfte auf seine Hosentaschen. Sie waren leer.

»Muss wohl«, sagte er.

Vivvo reichte ihm den Zylinder und wandte sich ab. Er drehte sich noch einmal zu ihm um. Soric wusste, dass Vivvo langsam dahinterkam.

Soric öffnete den Zylinder. Auf diesem Zettel stand: Sag es Gaunt. Neun sind unterwegs. Neun sind unterwegs.

Die Handschrift verriet Hast. Hingekritzelt und kaum leserlich, als habe er in aller Eile geschrieben.

Trotz der Feierlichkeiten ringsumher spürte Soric, wie sein Mut sank.

Auf der kleinen Lichtung war es still. Es war ein Frühlingsmorgen, noch früh, und die ersten Sonnenstrahlen fielen durch die Blätter. Ein vager Nebel lag auf dem Weg zur Kapellentür.

Jeder seiner Schritte klang zu laut in der kühlen Stille. Kein Vogel sang. Das kam ihm merkwürdig vor. Seine Stiefel knirschten auf den Steinplatten.

Sein Puls raste. Es gab nichts zu fürchten, aber er fürchtete sich dennoch. Woran lag das? Er wollte hier sein. Er wollte hineingehen, aber sein Herz hämmerte wie verrückt.

Er erreichte die Tür. Tau glitzerte auf dem Eisengriff. Er streckte die Hand nach ihm aus, doch die Tür öffnete sich bereits von allein. Sie öffnete sich, und hinter ihr sah er …

Gaunt schrak aus dem Schlaf. Er rang förmlich nach Atem. In dem Raum, wo er sich befand, war es dunkel und übermäßig warm. Er hatte keine Ahnung, wie spät es war.

Er stand auf und ging zum Fenster, um die Jalousien zu öffnen. Erst da spürte er die furchtbaren Schmerzen in seinem erschöpften Körper. Jeder Schritt war eine Qual.

Er öffnete eine Jalousie, und weißes Licht fiel in die kleine Kammer. Draußen war später Nachmittag, und ein Blick auf die Stadt verriet ihm, dass die Feierlichkeiten immer noch im Gange waren. Er konnte Banner erkennen, hin und wieder Feuerwerk und Menschenmengen, die immer noch durch die schmalen Straßen strömten.

Er spielte an den Temperaturreglern der Klimaanlage herum, die in die Fensterbank integriert waren, aber nichts konnte die bedrückende Hitze mildern. Er wünschte, er hätte das Fenster öffnen können, aber es war eine hermetisch versiegelte Einheit. Diese Etage des Makropolturms drei befand sich zu hoch über dem Stadtschild und der atmosphärischen Hülle rings um die Civitas.

Gaunt versuchte, sich an seinen Traum zu erinnern. Er war so lebensecht gewesen, ihm aber im Augenblick seines Erwachens entfallen. Aexe Cardinal. Er war wieder auf Aexe Cardinal gewesen, in der Kapelle. Mehr konnte er nicht sagen.

Er sah sein Spiegelbild in dem schweren Ankleidespiegel in der Ecke des Zimmers. Er trug lediglich eine Unterhose, und sein hagerer, muskulöser Körper sah unnatürlich bleich und weiß aus. Die dunklen Runzeln alter Narben sahen wie reliefartige Züge auf der Oberfläche eines kalkigen Mondes aus, vor allem der lange, hässliche Riss quer über dem Bauch, den Dercius ihm vor so vielen Jahren beigebracht hatte.

Die neueren Wunden, die er Herodor verdankte, waren lebendiger. So viele Abschürfungen und Kratzer, schwarz verschorft, die zu zählen er kein Interesse hatte. Auch Blutergüsse und Prellungen, dunkelviolett und fahlgelb. Die schwerste Verletzung war der Streifschuss auf der linken Schulter und der Schnitt in der rechten Wade. Lesp hatte ihn gesäubert und verbunden und ein paar der schlimmsten Schnitte genäht.

Er humpelte aus dem Schlafgemach in das Vorzimmer. Seine persönlichen Dinge lagen auf der Kommode, und seine Ersatzuniform hing über der Rückenlehne des Stuhls.

»Beltayn?«, rief er. Von seinem Adjutanten war nichts zu sehen.

Er kleidete sich gerade an, als sich die Tür öffnete und Rerval eintrat.

»Bitte um Verzeihung, Herr Kommissar. Ich hätte anklopfen sollen. Ich dachte, Sie schlafen noch.«

»Weitermachen.«

Rerval, Corbecs Signalmann und Adjutant, schloss die Tür hinter sich. Er hatte einen Brotbeutel bei sich.

»Wo ist Beltayn?«, fragte Gaunt.

»Er war völlig erledigt, Herr Kommissar. Corbec hat ihn zurück ins Quartier befohlen und mich gebeten zu übernehmen. Ich hoffe, das ist Ihnen recht.«

Gaunt nickte und knöpfte seine Jacke zu. »Wie lange habe ich geschlafen?«

»Ungefähr vier Stunden, Herr Kommissar. Langsam beruhigt sich alles ein wenig. Hauptmann Daur hält operativ alles zusammen.«

»Haben wir schon Zahlen?«

»Das zu sagen steht mir nicht an, Herr Kommissar. Lugo schmeißt heute Abend ein Bankett, bei dem Ihre Teilnahme erwartet wird.«

»Meinen Sie Marschall Lugo, Rerval?«

Rerval errötete. Seine Wangen wurden dunkelrot bis auf die lange weiße Narbe im Gesicht, die er sich auf Aexe geholt hatte. »Ja, Herr Kommissar.«

»Ehrlich gesagt ist mir völlig egal, wie Sie ihn nennen … aber eine schlechte Angewohnheit könnte Sie in Schwierigkeiten bringen.«

»Ich werde daran denken, Herr Kommissar.«

Gaunt hatte die Jacke zugeknöpft und sah sich nach seiner Mütze um. Rerval griff in den Brotbeutel, den er trug.

»Suchen Sie die, Herr Kommissar?«

Die Mütze war ein wenig staubig und sah ramponiert aus, obwohl sich Rerval alle Mühe gegeben hatte, sie wieder herzurichten.

»Oberst Corbec hat einen Späher zurück in das Hab geschickt, um sie zu suchen, Herr Kommissar. Aber keine Spur von Ihrer Boltpistole, fürchte ich, also habe ich einstweilen das hier für Sie requiriert.« Rerval holte eine nagelneue Laserpistole in einem schwarzen Lederhalfter aus dem Brotbeutel.

»Ich danke Ihnen, Rerval«, sagte Gaunt, während er das Halfter anlegte. Er schnallte sich das Schwert um und auch das Kampfmesser und setzte die Mütze auf. Dann hielt er kurz inne. »Ich … ich muss irgendwo unterwegs meinen Umhang verloren haben«, sagte er reumütig. Er schämte sich, es zuzugeben.

Rerval nahm seinen eigenen Tarnumhang ab. »Nehmen Sie meinen, Herr Kommissar. Bitte, es ist mir eine Ehre. Ich besorge mir einen Neuen.«

Gaunt nahm das Kleidungsstück, das das Markenzeichen der Tanither war, und nickte Rerval dankend zu. Rervals Geschenk war erstaunlich großzügig, wenn man bedachte, wie eifersüchtig die Tanither ihre Messer und Umhänge hüteten.

»Wie sehe ich aus?«, fragte Gaunt.

»Wie ein Welteneroberer, Herr Kommissar.«

»Sehr freundlich. Wie sehe ich wirklich aus?«

»Müde, Herr Kommissar.«

In der Operationszentrale war alles ruhig. Nur die Hälfte der Konsolen war besetzt, und in den meisten Fällen waren es Munitoriumsangestellte, die Dienst taten. Daur saß im Nebenraum und arbeitete sich durch einen Stapel Datentafeln.

Bei Gaunts Eintreten machte er Anstalten aufzustehen, doch Gaunt bedeutete ihm, Platz zu behalten.

»Es war eine lange Nacht, Ban. Wie halten Sie das nur durch?«

Daur lächelte beruhigend. »Ich habe nichts abbekommen. Und jetzt fühle ich mich wie eine Million Kreds. Und Sie?«

»Müde, aber Sieg ist Sieg. Erfüllt auch die müdesten Knochen mit neuem Feuer.«

»Aber es ist nicht nur das. Nicht nur der Sieg, meine ich … nach allem, was Sie uns gestern hier gesagt haben. Sie haben sich geirrt, nicht wahr?«

Gaunt setzte sich neben ihn. »In Bezug auf die Beati?«

Daur nickte. »Ich habe sie gesehen. Wir alle haben sie gesehen. Im Kampf und danach. Das war keine Hochstaplerin.«

Gaunt seufzte. »Nein. Nein, ich kann mir nicht vorstellen, dass es eine war. Vom ersten Augenblick an, als ich sie gesehen habe, war ich sicher … so sicher, wie ich gestern war, dass sie nicht echt ist.«

»Sie müssen sich gestern geirrt haben, Herr Kommissar«, sagte Daur.

»Tun Sie mir einen Gefallen, Ban? Bewahren Sie sich einen wachen Verstand. Das Mädchen, das ich gestern getroffen habe, war nicht die Heilige. Das weiß ich in meinem Herzen so sicher wie sonst etwas. Trotz ihrer Leidenschaft und Überzeugung war sie nicht echt. Die Frau, die letzte Nacht aufgetaucht ist … tja, die war alles, was die andere nicht war. Ich weiß nicht, was passiert ist … aber etwas sehr Seltsames hat stattgefunden, während diese Schlacht getobt hat.«

»Dafür danke ich dem Gott-Imperator!«

»In der Tat, der Imperator beschützt. Aber bewahren Sie sich einen wachen Verstand.«

»Weil etwas, das sich in eine Richtung verändert, sich auch wieder zurückverändern könnte?«

»Genau. Warum bringen Sie mich jetzt nicht erst mal auf den aktuellen Stand der Dinge?«

Daur reichte Gaunt eine Datentafel mit dem allgemeinen Operationsbericht. »Ich habe jeden Geist, der letzte Nacht Kampfhandlungen erlebt hat, auf Erholung und Neuausrüstung setzen lassen. Marschall Biagi wollte als Ergänzung für seine Streifen ein paar Trupps haben, aber Marschall Lugo scheint zu glauben, dass wir jetzt nichts mehr zu befürchten haben, also hat er abgewunken. Alle sind in den Quartieren, entweder in Bereitschaft oder im Tiefschlaf. Abgesehen von denen im Lazarett.«

»Wie viele?«

»Neununddreißig. Elf schwer verwundet, darunter Mkhef, Sapes und Bewl. Und Mkvenner.«

»Nicht schon wieder, nicht nach Aexe.«

»Nein. Er hat sich noch nicht von den Verletzungen erholt, die er auf Aexe erlitten hat. Soric ist ihm letzte Nacht im Feld begegnet und hat gesehen, dass er litt, also hat er ihm den Befehl erteilt, sich im Lazarett zu melden. Dorden meint, Ven hätte sich überanstrengt, und seine alten Wunden wären wieder aufgebrochen, und jetzt hat er innere Blutungen. Offenbar ist es ziemlich schlimm.«

»Wie schlimm?«

Daur zuckte die Achseln. »Ich bin nicht der Oberstabsarzt.«

»Wird Ven sterben?«

»Wahrscheinlich.«

»Feth!« Gaunt setzte die Mütze ab und legte sie neben sich auf den Schreibtisch. »Ich gehe und besuche ihn.«

»Beeilen Sie sich. Der Marschall hat heute Abend alle höheren Offiziere zu einem Bankett befohlen.«

»Ich dachte, es wäre üblich, Offiziere zu einem Bankett einzuladen, nicht, sie dorthin zu befehlen.«

»Ich glaube nicht, dass es eine freiwillige Veranstaltung ist, Herr Kommissar.«

Gaunt schüttelte den Kopf. Ihm war nicht nach Verbrüderung mit Lugos Offizierskader zumute. Er sah Daur an. »Da kann ich den Rest der schlechten Nachrichten auch ebenso gut gleich hinter mich bringen. Wie viele Tote?«

»Zweiunddreißig«, sagte Daur. Er reichte Gaunt noch eine Datentafel. »Das ist natürlich nur eine vorläufige Zahl. Wir haben immer noch zwanzig Vermisste.«

Die tanithischen Toten waren nach Trupp aufgelistet. Die ersten sechs stammten aus Gaunts eigenem Trupp, Nummer eins. Bei jedem Namen, den er las, durchzuckte ihn ein Schmerz, aber er verspürte auch Erleichterung. Der Kampf in dem Hab war so brutal gewesen, dass er mehr Namen auf der Liste erwartet hatte. Er wusste, dass Beltayn, Starck und Vanette es geschafft hatten, weil sie bei ihm gewesen waren. Es stellte sich heraus, dass Caober, Wersun, Myska, Derin, Neith, Lyse, Bool, Mkan und weitere acht ebenfalls lebendig entkommen waren.

»Mkoll sagt, Caober, Derin und Lyse hätten sie sicher nach draußen geschafft. Ein richtiger kämpfender Rückzug, wohlgeordnet, trotz des brutalen Handgemenges. Sie sind so weit gekommen, dass Mkolls Trupp ihnen Deckung geben konnte. Er empfiehlt Auszeichnungen für die Drei. Ich habe selbst mit Derin gesprochen. Es hört sich wirklich so an, als wäre es die Hölle in dem Hab gewesen.«

»Es war überall die Hölle, nicht wahr?«

Daur seufzte. »Ich glaube schon. Aber ich habe das Gefühl, dass Ihr Kampf in dem Hab das Schlimmste an Handgemenge war, was man sich vorstellen kann.«

»Es hätte gar nicht so weit kommen dürfen. Hätten wir Flammenwerfer gehabt, wären sie niemals nah genug für einen Sturmangriff herangekommen.«

»Sie kennen die Regeln hier, Herr Kommissar.«

»Ich kenne sie, ich hasse sie und ich werde darum kämpfen, sie zu ändern. Ich will nicht noch einmal in so eine Lage geraten. Wenn die nächste Welle kommt, werden wir bereit sein, und das bedeutet, Flammenwerfer an die Front.«

Daur nahm seinen Kaffein, trank und verzog das Gesicht, als ihm aufging, dass er kalt geworden war. »Die nächste Welle? Sie glauben, es kommen wirklich noch mehr?«

»Ich habe keine Zweifel, Ban«, sagte Gaunt, indem er sich erhob. »Wir haben hier ein paar harte Stunden erlebt, und ich wollte sie nicht noch mal durchleben, aber wir wären Narren zu glauben, dass das etwas anderes war als ein unerwartet schwerer Vorstoß. Die Hauptstreitmacht kommt. Und die wird anders aussehen.«

»Vielleicht gibt es aber auch gute Neuigkeiten, Gaunt.«

Sie schauten auf, als Viktor Hark den Raum betrat. Er blieb stehen, um ein paar Datentafeln abzuzeichnen, die ihm ein Munitoriumsschreiber hinhielt, wechselte noch ein paar Worte mit dem berobten Funktionär und trat dann endgültig ein.

»Sind Sie ausgeruht, Herr Kommissar?«, fragte Hark, während er seinen Jackenschoß anhob und sich ihnen gegenübersetzte.

»Es geht, danke, Viktor. Haben Sie viele Kampfhandlungen erlebt?«

»Nur am Schluss. Genug, um mich einzumischen. Nicht genug, um irgendwas für mich in Anspruch zu nehmen. Aber viele haben Auszeichnungen verdient. Ich habe eine Liste.«

»Ich freue mich wirklich auf die Lektüre.«

»Der Marschall hat auch eine Liste«, sagte Hark. »Sie stehen drauf.«

»Ich?«, sagte Gaunt.

»Sie beide. Kaldenbach und Biagi werden die Lorbeeren für den Sieg zugesprochen, aber Lugo will Sie und alle anderen hohen Offiziere – Tanither und Civitas gleichermaßen – auszeichnen, die in der ersten Phase im dicksten Getümmel waren. Ohne Ihren Einsatz, sagt der Marschall, hätte es keine Schlacht mehr zu gewinnen gegeben. Er veranstaltet das Bankett, um die Orden zu verleihen.«

Gaunt wollte antworten, doch er sah, wie erfreut und erregt Daur aussah, und verkniff es sich. Er hatte nicht den Wunsch, von Lugo ausgezeichnet zu werden, aber Männer wie Daur, Rawne und Corbec verdienten die Anerkennung. Tatsächlich war es höchste Zeit dafür.

»Was haben Sie gemeint, als Sie sagten, vielleicht gäbe es auch gute Neuigkeiten?«, fragte er.

»Astropathische Signale von der Verstärkungsflotte, soeben empfangen. Ich habe mir die Freiheit genommen, sie abzuzeichnen und an Lugo weiterzugeben. Unser Nachschub wird morgen früh eintreffen, wenn der Warpraum es zulässt. Neun Munitorium-Frachter mit Munition und medizinischem Bedarf, drei Regimentern Schwere Bodentruppen von Khan und einer ardeleanischen Panzerkompanie direkt von San Velabo. Außerdem soll ein Pionierschiff der Mechanicus mit Plasmareaktoren zur Verstärkung des Stadtschilds unterwegs sein. Dazu fünf Kriegsschiffe und Träger mit Abfangjägern aus der Schlachtflotte des Segmentums. In zwei Tagen wird Herodor eine sehr viel schwerer zu knackende Nuss sein als jetzt.«

»Das sind tatsächlich gute Neuigkeiten. Was ist mit feindlichen Truppenverschiebungen? «

Hark zuckte die Achseln. »Nichts. Den Sendungen zufolge ist die Sache letzte Nacht auf Khan VI ins Rollen gekommen. Die Horchstationen meinten, sie hätten eine Kriegsflotte angepeilt, die zu uns unterwegs sei. Tatsächlich war es dann aber eine Flotte von Pilgerschiffen aus dem Hagia-System.«

Gaunt nahm seine Mütze und setzte sie auf. »Betrachten Sie mich als sehr viel froher, als ich das noch vor fünf Minuten war. Ich bin im Lazarett, falls mich jemand brauchen sollte.«

»Das Bankett beginnt um 20:00 Uhr, Herr Kommissar«, erinnerte ihn Hark.

»Ich werde pünktlich sein.«

Gaunt ließ Daur und Hark ins Gespräch vertieft zurück und hinkte durch die ruhige Operationszentrale nach draußen. An der Tür kam ihm Sergeant Meryn entgegen. Meryn salutierte zackig.

»Gibt es ein Problem, Meryn?«

»Eigentlich suche ich Kommissar Hark, Herr Kommissar.«

»Ich kann Ihnen nicht helfen?«

»Ich würde Sie nicht behelligen wollen, Herr Kommissar.«

 

Das primäre Quartier der Tanither befand sich in einer Schola im dreißigsten Stock von Makropolturm drei. Die Schlafsäle mit den Doppelstockbetten waren ausgeräumt worden, um die Fremdweltler unterbringen zu können. Die Jalousien waren geschlossen, die Phosphalampen heruntergedreht, und der Rauch von Lho-Stäbchen lag in der Luft.

Soric hinkte durch den Gang zwischen den Betten von Schlafsaal fünf und wechselte dabei leise Grüße mit den Männern, die nicht schliefen. Viele lagen praktisch bewusstlos auf ihren Kojen, immer noch in Uniform und mit dem Blut und Dreck der vergangenen Nacht besudelt.

Soric war selbst erschöpft, aber er war auch nervös und konnte nicht schlafen. Sein verlorenes Auge schmerzte wie die Hölle.

»Alles klar mit Ihnen, Chef?«, rief Corbec ihm zu.

Soric blieb stehen und stapfte zu Corbecs Koje. »Alles bestens, Colm. Sie kennen mich doch.«

»Ja, ich kenne Sie«, sagte Corbec. Er hatte im Unterhemd auf seiner Koje gelegen, aber jetzt richtete er sich auf und zückte eine Taschenflasche.

Er bot sie Soric an, der sie nahm und sich auf den Rand seiner Koje setzte.

»Guter Stoff«, sagte er schmatzend und gab die Flasche zurück. »Aber der Sacra ist es nicht, oder?«

So nannten die Geister ihn mittlerweile: der Sacra. Einige der Männer und viele der Marketender und Händler, die das Regiment begleiteten, waren mittlerweile durchaus geschickt darin geworden, den geliebten Schnaps der Tanither zu brennen. Doch keiner von ihnen hatte so ein Händchen dafür wie der gefallene und viel betrauerte Bragg zu Lebzeiten. Sein Stoff war immer der Beste gewesen. Angeblich gab es noch ein paar Flaschen. Und dieser Stoff wurde wie eine legendäre Reliquie der Sacra genannt.

»Nein«, grinste Corbec. »Aber ich muss Ihren Gaumen loben. Nicht viele Verghastiter können den Unterschied schmecken.«

Soric zuckte die Achseln. »Wir kommen langsam auf den Geschmack. Ich habe Gerüchte gehört, dass Soldat Lillo kurz davor steht, den ersten Selbstgebrannten verghastitischer Herstellung zu perfektionieren. Er nennt ihn Gak Mich Nummer Eins.«

Corbec grinste. »Ich weiß. Bei allem Respekt vor Lillo – und ich darf Ihnen anvertrauen, dass er mich, Domor und Varl als Geschmacksberater für ausgedehnte Tests hinzugezogen hat –, Gak Mich Nummer Eins macht stockbesoffen und reinigt die Zahnbürsten. Aber es ist kein Sacra. Dieser Stoff hier, der, wie Sie mir sicher zustimmen werden, ein ausgezeichnetes Aroma, einen angenehmen Beigeschmack und einen Hauch von Vanille und Frostschutzmittel hat, ist das Erzeugnis des guten alten Brostin, der, machen wir uns nichts vor, weiß, wie man Sachen brennt. Er ist so ungefähr das Beste, was es in diesen trüben Post-Bragg-Zeiten gibt.«

Soric trank noch einen Schluck. »Er hat eine strahlende Zukunft auf dem Gebiet illegaler Rauschmittel vor sich, dieser Brostin.«

»Und … was hält Sie um diese Zeit noch auf den Beinen?«

»Ich kann nicht schlafen.«

»Ich auch nicht. Ich habe das Jucken.«

»Das Jucken?« Soric blinzelte Corbec mit seinem gesunden Auge an.

»Nichts, was ich mir bei einem von Aleksas Mädchen geholt hätte, versichere ich Ihnen. Das Jucken der Schlacht. Scheint so, als wäre ich zu lange aus dem Geschäft gewesen. Viel zu lange. Sicher, auf Aexe war ich an der einen oder anderen Schießerei beteiligt, aber viel war es nicht. Ich habe das Gefühl, ich müsste wieder zurück ins Spiel.«

Soric nickte. Auf Phantine waren er und Corbec schwer verwundet worden. Der Vorfall war der Letzte in einer langen Reihe von Verwundungen gewesen, die der Oberst erlitten hatte. Ohne Soric wäre er sogar im Krankenbett gestorben.

Denn damit hatte alles angefangen.

Im Zustand seiner Verwundung hatte Soric eine Art Verwandlung durchgemacht. Er konnte nicht genau sagen, inwiefern, und er hatte darüber Stillschweigen bewahrt. Aber es war so, als sei etwas in ihm erwacht. Etwas, das er vor seinen Freunden und Kameraden geheim halten musste. Es hatte Andeutungen von Hexerei in seinem Familienstammbaum gegeben, wenn auch nie genug, um zum Problem zu werden. Er hatte geglaubt, er sei übersprungen worden, bis er auf Phantine schwer verwundet worden war.

Dort hatte er gewusst – ganz einfach gewusst –, dass Corbec an einer Blutvergiftung starb. Seine Warnung hatte Corbec das Leben gerettet. Und das war nur der Anfang gewesen. Seitdem kamen die Botschaften immer häufiger.

Gak, er wollte, dass es aufhörte.

Trotzdem wusste er, was Corbec meinte. Corbec war kein junger Mann mehr – das war keiner von ihnen –, und jede Verwundung konnte das Ende ihrer Laufbahn sein. Keiner von ihnen wollte das. Trotzdem …

»Übertreiben Sie es nicht«, sagte er.

»Wie meinen Sie das?«

»Sie wollen beweisen, dass Sie noch jung sind, jung und tüchtig. Aber übertreiben Sie es nicht. Die Schießereien sind nicht für ihre Barmherzigkeit bekannt.«

Corbec grinste ihn an. »Ich bin der stellvertretende Oberbefehlshaber des besten Regiments im ganzen Imperium, Agun … und das ist ein Posten, den ich noch lange einnehmen will. Machen Sie sich um mich keine Sorgen. Ich werde ewig leben.«

»Sehen Sie zu, dass Sie das schaffen«, sagte Soric und stand auf. »Ist Milo in der Nähe?«

»Irgendwo da hinten«, sagte Corbec, indem er mit dem Daumen nach hinten wies.

Soric hinkte weiter durch den Gang. Er sah Larkin auf einer der unteren Kojen schlafen, das Präzisionsgewehr in den Armen wie eine Freundin.

Soric blieb wie angewurzelt stehen und drehte sich langsam um. Etwas … etwas setzte ihm zu. Etwas, wofür er nicht einmal seinen verdammten Nachrichtenzylinder öffnen musste.

Zwei Kojenreihen weiter lag Lijah Cuu flach auf dem Bauch auf einer der oberen Kojen und schien zu schlafen.

Doch Soric sah, dass Cuus Katzenaugen geöffnet waren, geöffnet waren und Larkin anstarrten.

Er schauderte. Cuu war ein übler Zeitgenosse. Wenn er Larks auf dem Kieker hatte, tat Soric der Scharfschütze Leid. Vielleicht sollte er jemandem davon erzählen …

Er rief sich selbst zur Ordnung. Cuu sah jetzt ihn an und erwiderte Sorics Blick. Soric sah weg und ging weiter. Was sollte er überhaupt erzählen? Dass er so ein Gefühl hatte? Ein schlechtes Gefühl? Eine handgeschriebene Notiz von sich selbst, die besagte, dass Cuu ein irrer Feth war, der ständig überwacht werden müsse?

»Was liegt an, Chef?« Soric war neben Milos Koje stehen geblieben. Der jüngste Geist hatte seinen tanithischen Dudelsack auf dem Schlafsack ausgebreitet und reinigte die Pfeifen mit einer Drahtbürste.

»Hallo, Brinny. Haben Sie einen Moment Zeit?«

»Sicher.«

Milo räumte den Dudelsack beiseite, damit Soric sich setzen konnte. Der alte Verghastit zog einen blauen Papierfetzen aus der Tasche.

»Ich brauche Ihre Hilfe. Es ist eine heikle Angelegenheit. Können Sie mir Diskretion versprechen?«

»Natürlich«, flüsterte Milo, der sich aufrichtete und sich fragte, was bei Feth Soric ihm erzählen wollte. Anstatt etwas zu sagen, reichte Soric ihm den Papierfetzen.

»Was ist das?«

»Lies es.«

Milo las es. Auf dem zerknitterten Zettel stand handschriftlich: Frag Milo. Vertrau Milo. Er wird es wissen.

»Was soll das bedeuten?«, fragte Milo.

Soric zuckte die Achseln.

»Na, wer hat das geschrieben?«

»Ich.«

»Wann?«

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, sagte Soric.

Gaunt hasste Feldlazarette. Sie erinnerten ihn zu sehr an die Konsequenzen seines Berufs.

Die Civitas Beati hatte den Tanithern eine öffentliche Klinik in der zehnten Etage des Makropolturms drei als Lazarett zugewiesen. Es handelte sich um einen spartanischen Saal aus Metallkacheln und Plastikschirmen. Als er durch den Eingang humpelte, stieg ihm der Gestank nach Desinfektionsmitteln in die Nase, der so scharf und stark war, dass er den unterliegenden Geruch nach Blut und menschlichen Exkrementen beinahe, aber doch nicht ganz überdeckte.

Eine Handglocke läutete. Infardi-Freiwillige und einheimisches medizinisches Personal war in mattem Licht zwischen den Betten unterwegs, und in einer Ecke verabreichte ein Probst der Ekklesiarchie eine letzte Ölung. Kerzen flackerten unter ihren Glasabdeckungen. Jemand schrie vor Schmerzen. Durch einen teilweise zugezogenen Schirm sah Gaunt Curth und Lesp mit einem um sich schlagenden Leib kämpfen. Unter der Bahre sammelte sich eine Blutlache.

Er setzte die Mütze ab und hinkte durch den Saal. Indem er ständig nach rechts und links schaute, fand er Mkvenner schließlich, der in einem Bett ganz am westlichen Ende unter den Fenstern lag. Draußen wurde es langsam dunkel, und auf Mkvenners Bett fielen Streifen aus kaltem blauen Licht. Gaunt sah Kolea in stiller Wacht an Vens Bett sitzen. Koleas Verstand war zwar zerstört worden, aber er schien Dinge zu wissen, vielleicht zu spüren. Gaunt war froh, dass Mkvenner in dieser Situation nicht alleine war.

Er wollte gerade zu Vens Bett gehen, als Dorden aus einem Nebenraum auftauchte.

»Ibram«, sagte er, als sei er überrascht, Gaunt zu sehen.

»Doktor. Ich wollte nach den Verwundeten sehen. Vor allem nach Ven.«

Dorden nickte. Zwischen ihnen gab es Spannungen. Beide bedauerten, wie belastet ihr Verhältnis inzwischen war. »Wenn Sie einen Moment Zeit hätten«, sagte Dorden. »Ich möchte, dass Sie mal nach Zweil sehen.«

»Nach Zweil? Wurde er verwundet?«

Dorden schüttelte den Kopf. »Er hat letzte Nacht in der Kathedrale einen Schlaganfall erlitten.«

»Feth, warum hat man mir nichts davon gesagt?«

»Ich wusste nicht, dass man Ihnen nichts davon gesagt hat.«

»Wie ist seine Prognose?«

»Sein Zustand ist stabil. In diesem frühen Stadium lässt sich das nur schwer einschätzen.«

»Irgendeine Ahnung, wie es dazu gekommen ist?«

Dorden sah ihn an. »Anstrengung. Aufregung. Ich bin sicher, Sie erinnern sich noch, dass der Ayatani letzte Nacht ziemlich aufgebracht war.«

»Wollen Sie mir die Schuld geben?«

»Nein, natürlich nicht!«, schnauzte Dorden. »Nicht alles dreht sich um Sie, Gaunt.«

Bemüht, nicht darauf zu reagieren, ging Gaunt an Dorden vorbei und in das Nebenzimmer. Zweil lag in weiße Laken gehüllt in seinem Bett.

»Ayatani-Vater«, flüsterte Gaunt, als er sich ans Bett setzte.

»Ach, Sie sind es«, sagte Zweil. Er sprach undeutlich. Seine linke Gesichtshälfte schien sich nicht bewegen zu wollen.

»Wie geht es Ihnen?«

»Das kümmert Sie einen Feth!«

»Das kümmert mich sogar sehr. Seien Sie nicht so feindselig, Zweil. Damit machen Sie alles nur noch schlimmer.«

Zweil schloss die Augen wie im Bedauern. »Sie hatten recht«, zischte er. »Ich bin hingegangen, um sie mir anzusehen. Ich bin ihr begegnet. Sie ist nur eine Lüge, eine verdammte Lüge. Sie ist nur dieses alberne Mädchen, Sanian. Sie hatten recht.«

»Hatte ich nicht«, sagte Gaunt.

Zweil drehte langsam den Kopf und sah Gaunt an.

»Was?«, ächzte er.

»Letzte Nacht war sie noch eine Lüge. Heute ist sie keine mehr.«

»Quälen Sie ihn nicht, Gaunt«, sagte Dorden aus dem Schatten der Tür hinter ihm.

Gaunt drehte sich abrupt zu Dorden um. »Haben Sie nicht gesehen, was heute passiert ist, Doktor?«

Dorden zuckte die Achseln. »Ich war beschäftigt. Mir ist zu Ohren gekommen, dass wir gewonnen haben.«

»Die Heilige ist hier«, sagte Gaunt. »Sie hat uns zu diesem Sieg geführt. Ich verstehe es selbst nicht, aber es stimmt.«

Dorden trat ins Zimmer und in das Licht, das von den Elektrokerzen rings um das Bett des alten Priesters erzeugt wurde. »Ist das wieder eines Ihrer Spielchen?«

»Sie kennen mich. Ich mache keine Spielchen.«

»Ich dachte, ich kenne Sie, Ibram. Aexe Cardinal hat mich eines Besseren belehrt. Aber … nein, das stimmt wohl.«

»Doktor, Sie sind auf Hagia durch die Hölle gegangen, weil Sie geglaubt haben. Letzte Nacht habe ich nur gesagt, was ich gesagt habe, um Ihren Glauben zu schützen. Letzte Nacht hat es auf Herodor keine Heilige Sabbat gegeben, wenigstens keine, die ich gesehen hätte. Heute Morgen gibt es eine.«

»Ich will sie sehen«, sagte Zweil plötzlich.

»Er ist zu krank, um …«, begann Dorden.

»Ich will sie sehen!«

»Er will sie sehen, und ich meine, das sollte er auch«, sagte Gaunt. »Sie auch, Tolin.«

Dorden zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht …«

»Besorgen Sie einen Rollstuhl. Und ein paar Pfleger, die Zweil in den Rollstuhl setzen.« Gaunt warf einen Blick auf seine Taschenuhr. Es war Viertel nach sieben, und er war nicht einmal umgezogen. »Tun Sie’s!«, beharrte er. Er drehte sich wieder um und drückte Zweils Hand. »Ich bringe Sie zu ihr. Lassen Sie mich zuerst nach Ven sehen.«

Zweil nickte.

Gaunt hinkte wieder in den Hauptsaal und schlug die Richtung zu Mkvenners Bett ein. Dann blieb er stehen.

Mkvenner und Kolea waren verschwunden.

 

Das Heilige Balnearium war leer. Kein Geräusch war zu hören bis auf das sanfte Schwappen des Wassers im Hauptbecken. Die Luft war von Dampf erfüllt und vom metallischen Geruch nach Eisen.

Im Licht der flackernden Kerzen, die die lange Kalksteintreppe säumten, half Kolea Mkvenner nach unten. Biolichtkugeln schienen unten im Dampf, und in ihrem Licht war das Wellengekräusel des heiligen Beckens zu sehen.

Mkvenner hustete heftig, und seine Hand war nass von Blut, als er sie vom Mund wegnahm. Kolea hielt ihn fest und bewahrte ihn vor einem Sturz.

»Bring mich zurück, Gol«, sagte Mkvenner. Seine Stimme klang rasselnd.

Kolea schüttelte den Kopf. »Macht dich besser. Das hier, ja. Das macht dich wieder besser. Es heilt alle Wunden. Das haben sie gesagt. Du wirst es sehen.«

»Ich bin müde. Zu müde. Ich kann nicht …«

»Bleib jetzt nicht stehen, Ven. Bleib nicht stehen. Halt dich an mir fest, ich bringe dich hin. Du fällst nicht.«

»Gol, bitte. Lass mich in meinem Bett sterben. Lass mich …«

Er fing wieder an zu husten. Der Anfall war so schlimm, dass er sich vorbeugte und Blut auf die glänzenden Kalksteinstufen spritzte. Mkvenner sank auf die Knie.

»Das ist Wahnsinn«, keuchte Mkvenner.

Kolea schüttelte den Kopf. »Sie macht dich wieder besser«, sagte er. Er griff in seine Jackentasche und holte eine wirklich scheußliche Gipsfigur der Heiligen heraus, Pilgertand. Kolea zeigte sie ihm mit gewaltigem Stolz. »Hab das gefunden. Glücksbringer. Ganz viel Glück. Hat Tona gehört. War in ihrer Tasche.«

»Criid?«

Kolea nickte und lächelte aufmunternd. »Hab sie verletzt gefunden. Ganz viel Glück. Hat sie beschützt. Richtig beschützt. Beschützt dich auch. Macht dich wieder besser.«

»Bring mich einfach nur zurück, Gol.«

»Die Heilige macht dich wieder besser. Das Wasser macht dich besser. Du wirst schon sehen.«

Kolea schob das Bildnis zurück in die Jackentasche. Mkvenner fing wieder an zu husten. Mehr Blut kam, und Mkvenners Husten wurde so heftig, dass er das Bewusstsein verlor.

Kolea bückte sich und hob den großen Tanither auf. Vor Anstrengung grunzend und mit zitternden Beinen ging er die Treppe hinunter und trug Mkvenner auf den Armen nach unten.

Er erreichte das Ende und ging am Becken entlang zu den Stufen, die ins dampfende Wasser führten.

»Macht dich wieder besser«, wiederholte er immer wieder. Mkvenner antwortete nicht. Sein Kopf hing schlaff herab.

Mit dem sterbenden Späher auf den Armen stieg Kolea langsam ins Wasser, bis zu den Schienbeinen, den Knien, den Oberschenkeln, der Hüfte. Der Auftrieb des Wassers hielt Mkvenners schlaffe Gestalt und ließ ihn treiben. Kolea ging weiter, bis ihm das Wasser bis zum Hals reichte, und hielt Mkvenner dabei über Wasser.

Blut breitete sich in einem weiten Fächer rings um sie aus.

»Werde besser! Werde jetzt besser!«, rief Kolea.

Plötzlich sah er auf. Auf der anderen Seite des Beckens war eine Gestalt aufgetaucht, die in dem wallenden Dampf nur undeutlich zu sehen war.

»Mach ihn wieder besser!«, forderte Kolea, während er sich bemühte, Mkvenners schlaffen Körper über Wasser zu halten.

»Mach ihn wieder besser!«

 

»Was nun? Ich soll laufen?« Zweil beugte sich auf seinem Rollstuhl vor, den Lesp schob, und starrte auf die von Kerzen beleuchtete weiße Treppe unter ihnen. Sie konnten das schwefelhaltige Wasser riechen.

Zweil drehte mühsam den Kopf zu Gaunt. »Erwarten Sie, dass ich aufstehe und da runterlaufe?«, knurrte er.

»Nein«, sagte Gaunt. »Lesp? Helfen Sie mir.«

Der Oberbefehlshaber der Tanither und der schlanke Sanitäter hoben Zweil an und trugen ihn gemeinsam die Treppe hinunter. Es war schwer. Gaunt ging jetzt erst auf, wie wenig belastbar sein verwundetes Bein war. Wenn er jetzt fiel …

Hinter ihnen schüttelte Dorden müde den Kopf und schob den leeren Rollstuhl auf eine Seite. Dann folgte er den anderen langsam in die feuchte Kammer des Heiligen Balneariums.

»Könnten Sie mit dem Zappeln aufhören?«, grunzte Lesp.

»Ich zapple nicht!«, beschwerte sich Zweil.

»Doch, Sie zappeln. Das ist nicht leicht«, sagte Gaunt. Infolge der Anstrengung hatten sich Schweißperlen auf seiner Stirn gebildet, und Lesp keuchte. Jede Stufe der glatten Kalksteintreppe war nass, und mit jedem Schritt konnte die Katastrophe eintreten.

»Was … was bei Feth geht da unten vor?«, sagte Dorden plötzlich hinter ihnen.

Gaunt wäre beinahe gestürzt. Sie waren auf halbem Weg die weiße Treppe hinunter. »Setzen Sie ihn ab! Setzen Sie ihn ab, Lesp!«

Sie senkten den gelähmten Zweil langsam auf die Treppe und ließen ihn los. Lesp musste in die Hocke gehen und den alten Ayatani festhalten, damit er nicht die nassen Stufen hinunterglitt. Gaunt erhob sich und schaute zu der Stelle, auf die Dorden zeigte. Unter ihnen standen drei Gestalten im Badebecken.

»Warten Sie hier«, sagte Gaunt.

Dorden nahm Gaunts Stelle neben Zweil ein und half Lesp, ihn festzuhalten. Die drei beobachteten Gaunt, der mühsam den Rest der Treppe nach unten stieg.

Am Fuß der Treppe angelangt, hinkte Gaunt zum Rand des Beckens. Die drei Gestalten im Wasser waren jetzt untergetaucht, und eine drückte den beiden anderen die Hände auf den Hinterkopf, um sie unterzutauchen.

Oder sie zu ertränken. Oder sie zu taufen.

Gaunt konnte es nicht sagen. Er stieg selbst ins Wasser hinab.

Die Gestalten tauchten in einem Wirbel von Blasen und Spritzwasser wieder auf. Kolea. Mkvenner.

Und sie.

»Was geht hier vor?«, rief Gaunt.

Die Beati, die nur ein weißes Hemd trug, lächelte ihn an und wischte das Wasser weg, das ihr aus den Haaren über das Gesicht lief.

»Das Wasser heilt, Ibram«, sagte sie.

Ihr bloßer Anblick vertrieb all seine Ängste. Er blieb stehen, wo er war, während das warme Wasser gegen seine Beine schwappte.

Mkvenner drehte sich um und watete zu ihm.

»Ven?«

Mkvenner erklomm die Treppe und setzte sich völlig durchnässt hin. Er fing an zu lachen.

»Ven? Ist alles in Ordnung?«

Mkvenner lachte herzlich wie über einen gewaltigen kosmischen Witz. Ein Mann in seiner Verfassung konnte unmöglich so lachen. Es sei denn …

»Ich hab’s doch gesagt«, sagte Kolea, der ebenfalls zur Treppe gewatet kam und neben Mkvenner aus dem Wasser stieg. »Hab ich’s dir nicht gesagt? Das heilt alles. Das ist der Witz hier, es …«

Kolea hielt inne und sah sich blinzelnd in der feuchten Luft um. Sein Blick verharrte schließlich auf Gaunts Gesicht.

»Ich …«, sagte er. »Herr Kommissar, ich glaube, mir ist irgendwas entfallen. Wie bin ich hierher gekommen?«


SECHS

Unruhe

»Ein schlimmer Tag steht bevor!«

– Unbekannter Prediger, Herodor

 

»Würden Sie das … wiederholen, bitte.«

Marschall Lugo strahlte in der weißen Galauniform mit hohem Kragen Macht und Autorität aus, aber sein Tonfall entsprach ganz und gar nicht seiner Erscheinung. Er klang eindeutig nervös.

»Ich sagte, Marschall, dass ich mich für meine Verspätung entschuldige, aber ich wurde durch ein außergewöhnliches Ereignis im Heiligen Balnearium aufgehalten. Vor meinen Augen hat die Beati ein heiliges Wunder vollbracht. Eigentlich sogar zwei. Heilige Wunder der Heilung.«

Gaunt verstummte und ließ die Stille wirken. Der Raum, ein hoher Ballsaal in der Altmakropole, den Lugos Stab für das Bankett requiriert hatte, war voller Offiziere in Galauniform – herodorische Planetare Streitkräfte, Leibkompanie, Regiment Civitas Beati und Tanither, die alle Gaunt und den Marschall anstarrten. Sie hatten bei Gaunts Eintreten herumgestanden, Amasecs als Aperitif getrunken und sich miteinander unterhalten, und sie hatten jedes Wort gehört.

»Ein Wunder? Was für ein Wunder?«, fragte Lugo gereizt.

Biagi und Kaldenbach standen in der Nähe, und Gaunt sah Rawne, Mkoll, Daur und Hark unter den Anwesenden. Hinter den versammelten Offizieren stellten die Dienstboten und Hausangestellten, die letzte Hand an die lange Tafel anlegten, ihre Aktivitäten ein, als sei ihnen klar, dass etwas in der Luft lag.

»Zwei meiner Soldaten waren heute Abend im Heiligen Bad. Einer namens Mkvenner war dem Tode nah. Er wurde auf Aexe schwer verwundet und hat sich davon nie wieder richtig erholt. Der andere, Sergeant Kolea, ist im Zuge der Kampfhandlungen auf Phantine zum geistigen Krüppel geworden. Es war ein chronischer Zustand, den keine Operation und kein Arzt beheben konnte. Wie ich es sehe, hat Kolea Mkvenner ins Bad getragen. Es war ein Akt der Kameradschaft. Ich glaube, Koleas simpler Verstand hatte sich an das geklammert, was er über das heilige Wasser gehört hatte, und so glaubte er, das Richtige zu tun.«

Lugos Augen verengten sich beim Zuhören.

»Bei meinem Eintreffen«, fuhr Gaunt fort, »befanden sie sich im Hauptbecken, und die Heilige war anwesend. Sie war bei ihnen im Wasser, beinahe so, als ob sie …«

»… sie taufen würde?«, murmelte Biagi.

»Genau, Marschall«, sagte Gaunt. »Als sie damit aufhörte, waren beide Männer geheilt. Völlig geheilt.«

»Sie müssen sich irren«, sagte Kaldenbach.

Gaunt schüttelte den Kopf. »Ich gebe zu, Wahrheit und Falschheit scheinen hier auf Herodor ständig den Platz zu tauschen, aber ich weiß, was ich gesehen habe.«

»Waren Sie allein, als Sie Zeuge dieses Vorfalls wurden, Gaunt?«, fragte Lugo.

»Nein, Herr Marschall. Mein Oberstabsarzt war bei mir, dazu ein Sanitäter namens Lesp und Ayatani Zweil.«

Lugo und Biagi wechselten einen raschen Blick. Gaunt konnte das kaum verhohlene Unbehagen in ihrer Miene erkennen.

»Wann ist das passiert?«, fragte Lugo.

»Vor einer Stunde, Herr Marschall.«

»Und Sie kommen erst jetzt und berichten mir davon?«

Gaunt stutzte. »Ayatani Zweil hat mich mit der Etikette bei solchen Vorfällen vertraut gemacht. Ich habe mich beeilt, den obersten Ayatani, die Pröbste der Ekklesiarchie und den ersten Offiziar zu verständigen, damit die Wunder bestätigt und dokumentiert und in die heiligen Akten Eingang finden können.«

»Sie haben Kirche und Staat vor mir informiert?«

Gaunt nickte. »Mir war nicht bewusst, dass Wunder eine militärische Angelegenheit sind, Marschall. Ayatani Zweil sagte, Schauplatz eines nachgewiesenen Wunders zu sein würde Herodors Bedeutung als heiligen Ort gewaltig erhöhen. Das mache es zu einer Angelegenheit der Imperialen Kirche. Alle Bürger des Imperiums sind gesetzlich verpflichtet, die Ekklesiarchie von Wundern und Omen in Kenntnis zu setzen. Und natürlich verleiht es auch der Authentizität der Beati selbst Provenienz.«

»Sie braucht keine Provenienz!«, schnauzte Lugo.

»Herr Marschall, ich verstehe das nicht«, sagte Gaunt. »Die Heilige wurde hier auf Herodor wiedergeboren und hat durch das Wirken echter Wunder ihre Göttlichkeit unter Beweis gestellt. Das ist sicher Grund genug für ein allgemeines Frohlocken. Warum wirken Sie verärgert?«

Lugo versteifte sich und sah sich um, da ihm plötzlich bewusst wurde, welchen Eindruck er machte. Er zwang sich zu einem Lächeln. »Sie missverstehen mich, mein lieber Kommissar-Oberst. Ich bin nur … erstaunt. Wunder, wie Sie sagen, sind außerhalb unseres Verständnisses, außerhalb des Erlebnishorizonts des normalen Lebens, und ich muss gestehen, dass mich alles beunruhigt, was nicht in die pragmatische, physikalische Welt des Soldatentums passt. Ich bin sicher, meine Kollegen hier werden mir beipflichten?«

Überall im Raum erhob sich zustimmendes Gemurmel.

Lugo sah Gaunt an. »Ich schäme mich nicht zuzugeben, dass mich die Erwähnung von Wundern erschreckt, Gaunt. Das unsichtbare Universum übt seine Macht über unser materielles Leben aus. Diese Art von … Magie ist so oft das Rüstzeug unseres Erzfeindes. Also verzeihen Sie bitte meinen Tonfall. Natürlich ist es ein Grund für freudigen Dank.«

Er hatte sich blendend aus der Zwickmühle befreit, das musste Gaunt ihm lassen.

»Ich werde sofort zum ersten Offiziar gehen und mich mit ihm über das weitere Vorgehen beraten.«

Die Versammlung salutierte, während Lugo den Saal mit Biagi an seiner Seite verließ. Dann wurden die Unterhaltungen wieder aufgenommen, dringlicher nun.

»Stimmt das?«, fragte Hark leise, als er Gaunt erreichte.

Gaunt nickte.

»Aber Koleas Zustand war …«

»Unheilbar, ich weiß. Dorden weiß nicht, was passiert ist. Es hat ihm einen ziemlichen Schrecken eingejagt.«

»Und Lugo auch.«

»Das ist etwas anderes«, sagte Gaunt. »Ich glaube, Lugo ist erschrocken, weil er hier bis vor fünf Minuten alles sicher im Griff hatte und jetzt ganz eindeutig nicht mehr.«

 

Die Narben waren noch da: alt, rosa, glatt und wulstig, vom Halsansatz über den Hinterkopf bis zum höchsten Punkt seines Schädels. Das Haar war durch das Narbengewebe nie wieder richtig nachgewachsen, und Kolea hatte seinen Schädel kahl rasiert.

»Lassen Sie es mich noch mal sehen«, sagte er.

Ana Curth stutzte kurz und hob dann noch einmal den Handspiegel. Kolea verdrehte die Augen, um die Narben auf der Rückseite seines Kopfes zu studieren.

»Echte Schweinerei.«

»Ja, das kann man wohl sagen«, stimmte sie ihm zu. Sie legte den Spiegel weg, weil ihre Hände zitterten und sie ihn nicht fallen lassen wollte. »Nur noch ein paar Tests«, sagte sie in der Hoffnung, heiter und unbeschwert zu klingen.

»Haben Sie noch nicht genug durchgeführt?«, fragte er.

Sie begegnete seinem Blick und schluckte. In seinen Augen war wieder ein Licht, ein menschlicher Funke, der seit jenem Tag auf Phantine vor zwei Jahren abhanden gekommen war. Es war, als sei er von den Toten auferstanden, und obwohl sie überglücklich war, dass er wieder da war, verängstigte und erschreckte sie es auch. Es überstieg ihre Berufserfahrung, und sie konnte es nicht erklären.

»Warum setzen Sie sich nicht?«, schlug er vor. »Sie sehen aus, als hätten Sie einen Geist gesehen.«

Sie lachte, albernerweise über den grässlichen Witz erheitert, und setzte sich auf einen hölzernen Hocker mit Blick auf das Bett, auf dem er hockte. Im Lazarett war es still, obwohl die noch wachen Patienten gehört hatten, was los war, und von Bett zu Bett miteinander flüsterten. Von nebenan war das leise Surren eines Magnetresonanzgeräts zu hören, während Dorden den Abtaster zum zigsten Mal über Mkvenners Oberkörper wandern ließ. Dorden schaute von seiner Arbeit auf, erblickte die ihn ansehende Curth und zuckte die Achseln. Beiden war der Schreck in die Glieder gefahren. Sie hatten im Laufe ihrer Zeit beim Regiment eine Menge erlebt, aber noch nichts wie das hier.

»Woran können Sie sich noch erinnern, Gol?«, fragte sie.

Er runzelte die Stirn und spitzte die Lippen, und einen kurzen Moment ähnelte er dem Gol Kolea mit dem Hirnschaden, der versuchte, sich an einen Namen oder daran zu erinnern, was er gerade tat.

»Mit einiger Klarheit erinnere ich mich an eine Straße in Ouranberg in den Habs der Alpha-Kuppel. Criid war verwundet. Feindfeuer. Diese verdammten Loxatl-Missgeburten. Ich erinnere mich noch an die Einschläge ihrer Flechette-Werfer. An das unverkennbare Geräusch … zuerst das Zischen und dann das Klackern der Splitterdornen. Ich bin Tona holen gegangen. Sie war mit Allo und Jenk zusammen, und die waren beide tot. Sie hatte Splitter in den Arm und in die Hüfte bekommen. Es sah schlimm aus. Ich habe sie mir geschnappt und bin losgelaufen. Ich …«

»Was?«

»Danach kann ich mich an nichts mehr erinnern. Ab da ist alles ein verschwommener Nebel. Sie wissen, wie es ist, wenn man schwimmen geht und untertaucht und die Geräusche von oben alle gedämpft und hohl klingen? So kommen mir meine Erinnerungen seitdem vor. Vage und unscharf. Als mein Kopf in dem Bad wieder aus dem Wasser auftauchte, waren plötzlich alle Geräusche wieder da, und ich wusste wieder, wer ich bin.«

»Inzwischen sind zwei Jahre vergangen.«

»Zwei Jahre?«, ächzte er. »Erzählen Sie.«

»Was soll ich Ihnen erzählen?«

»Erzählen Sie mir, wo ich war. Erzählen Sie mir, was passiert ist.«

Sie seufzte tief und sah zu Boden. »Es war der Schuss eines Loxatl. Sie wurden am Hinterkopf getroffen, und … und wir konnten nichts machen. Sie wären beinahe gestorben. Sie müssen verstehen, Gol …«

»Ich verstehe, dass Sie Ihr Bestes getan haben.«

»Nein, ich meine … das hier ist nicht normal. Sie hatten einen beträchtlichen Teil Ihrer Hirnmasse verloren. Ihre Persönlichkeit wurde zerstört. Sie haben kaum noch auf Ihren eigenen Namen gehört. Sie waren nur noch ein Schatten. Ein leerer Körper.«

»Aber jetzt nicht mehr.«

Sie starrte ihn an. »Gol, ich habe Ihren Schädel mit dem Inframeter und dem Magnetresonator abgetastet. Keine Veränderung. Ihr Gehirn ist immer noch genauso geschädigt wie zuvor. Es hat keine Neubildung von Hirngewebe gegeben, nur grundlegende Gewebeheilung. Es ist vollkommen unmöglich, dass Sie wieder so … beieinander sind.«

Kolea hob die Hand und strich mit den Fingern über das Narbengewebe.

»Sie sagten, es wäre ein Wunder.«

»Das ist es auch. Im strengsten, buchstäblichsten Wortsinn. Sie und Ven.«

»Und das macht Ihnen Angst.«

»Ja, das tut es.«

Er blinzelte daraufhin und sah weg.

Curth sprang auf. »Ach, Gol! Nein! Missverstehen Sie mich nicht! Ich habe nur Angst vor dem Unbekannten. Dorden geht es genauso … Gott-Imperator, allen geht es so!«

Sie streckte die Arme aus, umarmte ihn fest und drückte ihm einen Kuss auf die Wange, bevor sie ihn wieder losließ.

»Aber wir sind verdammt froh, Sie wieder bei uns zu haben.«

Er lächelte. Das alte Lächeln. Das Lächeln, für das sie einmal Feuer und Flamme gewesen war.

»Erzählen Sie mir den Rest«, sagte er. »Wo sind wir hier?«

»Auf Herodor.«

»Und davor waren wir wo?«

»Auf Aexe Cardinal. Grabenkrieg.«

Er nickte zögernd. »Ich habe eine vage, gedämpfte Erinnerung an Schlamm und Wasser. Und Bombardierungen. Gewaltige Bombardierungen. Wer führt den Trupp?«

»Criid«, sagte Curth und lachte, als er vor Überraschung den Mund aufriss. »Der erste weibliche Sergeant. Die Dinge haben sich in den letzten zwei Jahren recht gut entwickelt. Jajjo hat es zum Späher gebracht.«

»Unser erster verghastitischer Späher? Heiliges Terra …«, murmelte Kolea, der aufrichtig gerührt und stolz war. »Das wurde auch Zeit.«

»Muril hätte es auch fast geschafft. Sie war im Programm, und Ven hat gesagt, er hätte ihren Wechsel zu den Spähern empfohlen.« Curths Miene verfinsterte sich. »Aber sie ist auf Aexe gefallen.«

»Wer noch?«, fragte er leise. »Bringen wir es hinter uns. Wen haben wir sonst noch verloren, während ich weg war?«

»Also … kann ich gehen?«, fragte Mkvenner.

Dorden packte seine Instrumente zusammen und warf ihm einen Blick zu. »Sie scheint das alles erstaunlich kalt zu lassen, Ven«, sagte er. Er versuchte das Stromkabel vom Resonator zu lösen, aber seine Gedanken waren ganz woanders, und er konnte sich nicht erinnern, wie das Kabelschloss funktionierte. Er musste das Gerät schnell aus der Hand legen, damit Mkvenner nichts von seiner Geistesabwesenheit mitbekam.

Mkvenner zuckte die Achseln. »Sie sagen, ich bin gesund?«

»Absolut. Keine Spur von inneren Blutungen. Es sind nicht einmal Spuren von Blutansammlungen in Ihrem Unterleib zurückgeblieben.«

Mkvenner zog sich das schwarze Unterhemd über den Kopf. »Dann kann ich also gehen?«

»Wissen Sie, was gerade passiert ist?«

»Ja«, sagte Mkvenner.

»Tja, ich nämlich nicht, verdammt noch mal! Also erklären Sie es mir.«

Mkvenner zuckte wieder die Achseln. »Es ist mir eine Ehre, dem Imperium der Menschheit zu dienen und dadurch auch dem Gott-Imperator, der uns alle beschützt. Heute Abend hat er mich in seiner unendlichen Weisheit verschont, und zwar durch sein auserwähltes Werkzeug. Dagegen werde ich keine Einwände erheben. Und ich werde mich davon auch nicht ängstigen lassen.«

»Ja, aber …«

»Es gibt kein ›Aber‹, Dorden. Wir kämpfen gegen den Erzfeind, weil wir an die Heiligen Wahrheiten glauben. Furchtbare Dinge geschehen, unnatürliche Dinge, warpmagische Dinge, und wir akzeptieren sie, weil wir glauben. Jetzt passiert etwas Gutes und Sie glauben, wir sollen es infrage stellen?«

Dorden runzelte die Stirn. »Nein, wenn man es so formuliert.«

Mkvenner sah auf. Von draußen drangen Geräusche herein. Stimmen.

»Bleiben Sie hier«, sagte Dorden und ging zum Eingang des Lazaretts.

Eine Menge versammelte sich in der von Fackeln erleuchteten Halle vor dem Lazarett. Dorden sah Scharen von Ayatanis und Esholis, Gruppierungen von Ekklesiarchen und Adepten, sogar einige Infardi. Die meisten hatten Gebetsperlen, Pilgerabzeichen, Ampullen mit heiligem Wasser oder Plakattafeln mit Bildern der Heiligen bei sich. Manche sangen oder schwangen Weihrauchfässer. Andere trugen Votivkerzen.

»Was ist hier los?«, fragte er.

»Wir wollen die Wunderbaren sehen«, sagte einer der Ekklesiarchen.

»Das ist unmöglich. Dies ist ein Krankenhaus, und hier sind kranke Menschen untergebracht, die Ruhe brauchen.«

»Die Heilige hat Menschen hier berührt!«, verkündete ein Ayatani. »Wir brauchen eine Anhörung dieser Männer und müssen sie auf Glauben und Wahrheit prüfen.«

»Gehen Sie weg«, sagte Dorden.

Ayatani Kilosh schritt durch die versammelte Menge zu ihm.

»Zeigen Sie mir die Männer«, sagte er zu dem Arzt.

»Kann das nicht warten?«

Kilosh schüttelte den Kopf. »Die Bestätigung muss eingeholt und bezeugt werden, und der Vorgang muss aufgezeichnet werden, sodass diese Wunder Eingang in die heiligen Akten finden können.«

»Warum?«

»Warum? Doktor, wenn eine Seuche ausbricht, versuchen Sie dann nicht, sie zum Wohle des Imperiums einzudämmen, zu identifizieren und zu dokumentieren?«

Dorden blinzelte. »Natürlich.«

»Nun, hier ist ein Wunder geschehen, das von profunder Bedeutung für die Kirche der Menschheit ist. Wir müssen es erforschen und dokumentieren, damit wir vollkommen verstehen können, was es besagt. Der Gott-Imperator hat zu uns gesprochen, und wir müssen herausfinden, was genau Er gesagt hat.«

Dorden seufzte. »Dann also nur Sie, Ayatani Kilosh. Sie und Ihre Schreiber. Ich lasse nicht zu, dass den anderen Patienten dadurch Unannehmlichkeiten entstehen.«

 

Es roch stark nach frischgebackenem Brot. Ein Stück weiter die Promenade entlang, an der auch die Schola gelegen war, wo die Tanither untergebracht waren, gab es eine Reihe von Geschäften – eine Weberei, einen Hutmacher, einen Maß-Schiedsmann, einen Metzger und eine Bäckerei. Es war kurz vor Morgengrauen, und ein Lichtbewahrer, ein langleibiger Servitor, schepperte die Promenade entlang und stellte die an den Wänden befestigten Phosphalampen auf Tageshelligkeit ein. Um diese Zeit hatte nur die Bäckerei geöffnet. Die Öfen brannten hinten im Geschäft, und die Lampen in den Fenstern brannten ebenfalls. In weniger als einer Stunde würde der Tag in der Makropole beginnen, und dann würde es hier von Arbeitern wimmeln, die von ihren Habs zu den Hauptfahrstuhlreihen der Makropoltürme gehen würden, um an ihren Arbeitsplatz zu gelangen. Die Bäckerei, die jeden Morgen riesige Mengen Frühstücksbrötchen und Zuckerbrot verkaufte, bereitete sich auf den allmorgendlichen Ansturm vor.

So früh am Morgen war es noch unheimlich leer. Die antiken Beschallungsanlagen entlang der Promenade spielten dieselbe sanfte Musik, die sie während der Nacht gesendet hatten, und über die öffentlichen Nachrichtenschirme flackerten wahllos besänftigende Texte aus dem imperialen Glaubensbekenntnis.

All das erinnerte Soric an die Vervunmakropole. Er fühlte sich traurig-nostalgisch. Er hatte diese Zeit immer geliebt, die frühe Ruhe zu Beginn eines Tages in der Makropole, die kurze Pause zwischen Nachtschicht und Tagschicht. Er erinnerte sich noch, wie er um diese Tageszeit aufgestanden und zur Arbeit gegangen war, wie er sich Kaffein und ein Sosal aus der Kantine seines Hab-Blocks geholt und dann die offenen Tore der Schmelzhütte bei seinem Gang zur Arbeit gesehen hatte.

Er hatte an die Tür der Bäckerei geklopft und den rotäugigen Gesellen dazu gebracht, ihm weiche Teigbällchen frisch aus dem Ofen zu verkaufen. Keine Sosals, aber immerhin … Nun saßen er und Milo unter der Überführung des oberen Gehwegs und aßen. Zwei Arbites gingen vorbei, beachteten sie aber nicht. Zwei Soldaten, die dienstfrei hatten und nach einer Nacht in den Tavernen auf dem Heimweg waren.

»Also … glauben Sie, dass Sie ein Psioniker sind?«

Sorics Mund verwandelte sich in ein verbissenes, auf dem Kopf stehendes U. »Das habe ich nicht gesagt, Brin.«

»Aber Sie sind besorgt wegen dieser … dieser Vorfälle?«

»Natürlich bin ich das! Besorgt … verängstigt.«

Milo aß die letzte Teigrolle und wischte sich mit dem Ärmel den Mund ab.

»Sie wissen, was passiert, Chef.«

»Ich weiß es. Ich weiß es, Gak.«

»Ehrlich, ich weiß nicht, warum Sie mit mir reden.«

»Weil …«

»Weil es hier steht?« Milo zog den zerknitterten blauen Zettel aus seiner Hosentasche.

»Ich will nicht sterben, Milo«, sagte Soric.

»Niemand hat irgendwas von sterben ges …«

Soric schüttelte den Kopf. »Eine Kugel in den Kopf. Die wartet auf mich. Sie brauchen nicht mal irgendwas zu beweisen. Wenn jemand glaubt oder auch nur glaubt, dass sie glauben, dass ich vom Warp berührt wurde, werde ich hingerichtet. Ohne Zögern.«

»Gaunt würde nicht …«

»Würde nicht? Es ist seine Pflicht. Es ist sogar die Pflicht von jedem von uns. Wenn ich herausfände, dass einer von meinen Jungens damit geschlagen ist, würde ich es selbst tun. Keine Frage. Ich bin kein Idiot. Bei Gak wie diesem riskiert man nichts.«

Milo überlegte kurz. »Dann müsste ich Sie von Rechts wegen erschießen. Oder wenigstens melden. Warum haben Sie mir vertraut?«

»Ich habe Sachen gehört.«

»Was denn?«

»Sachen. Sachen über Sie. Ich dachte, Sie wären vielleicht eine mitfühlende Seele. Ich dachte, Sie wüssten vielleicht, was zu tun ist.«

»Warum?«

»Weil Sie noch leben. Gaunt hat Sie eben nicht erschossen.«

Milos Augen weiteten sich. »Chef, ich müsste lügen, wenn ich sage, Sie jagen mir keine Angst ein. Der Feth, den Sie mir gerade erzählt haben … ich müsste eigentlich weglaufen und laut schreien, dass man Sie erschießt.«

»Aber das tun Sie nicht.«

»Nein. Ich bin schon mal verhört worden. Von einem Inquisitor. Haben Sie das gewusst?«

Soric erbleichte. »Nein!«

»Auf Monthax. Das war vor Ihrer Zeit. Vor Verghast.

Von der Erstgründung an wurde ich als Glücksbringer betrachtet, als Maskottchen. Sie kennen die Geschichte.«

»Corbec hat mir ein wenig davon erzählt. Sie waren der einzige Zivilist, der von Ihrer Welt entkommen konnte.«

»Genau.«

»Wegen Gaunt.«

»Genau. Er hat mir das Leben gerettet. Ich war der einzige Zivilist, der den Absprung von Tanith geschafft hat. Und der Jüngste. Alle Männer sahen mich an, als sei ich etwas Besonderes. Als sei ich ein kleines Stück von Tanith, das gerettet und bewahrt werden musste.«

»Aber Sie waren etwas Besonderes, nicht wahr?«

Milo grinste. »O ja. Ein Jugendlicher, von erwachsenen Soldaten umgeben, die ich unbedingt beeindrucken wollte. Corbec, Cluggan, Rawne – nehme ich an. Natürlich auch Gaunt. Ich fand es toll, dass sie mich beachteten, mich ernst nahmen. Ich glaube, das habe ich ein wenig ausgenutzt.«

»Ausgenutzt?« Soric lehnte sich zurück.

»Ich hatte ein Händchen dafür, Dinge zu wissen. Jedenfalls haben das alle gedacht. Ich war das Maskottchen, der Glücksbringer. Wenn ich ein komisches Gefühl hatte, nahmen es sich alle zu Herzen. Glauben Sie mir, Chef, es war ein Kinderspiel.«

»Sie haben es vorgetäuscht? Gak!«

Milo schüttelte den Kopf. »Nein, nein … nichts dergleichen. Manchmal habe ich so ein Gefühl. Ein Gefühl der Vorahnung. Aber betrachten Sie es so: Ich war fast noch ein Kind, das Männern in Kriegsgebiete folgte. Es war klar, dass jeden Moment schlimme Sachen passieren würden. Bombardierungen. Überfälle. Hinterhalte. Ich meine, allein aufgrund der Wahrscheinlichkeitsgesetze war klar, dass ich sehr oft richtig lag. Ich war verängstigt und nervös. Wenn ich erschrak, merkten die Männer auf. Wenn ich erschrak und sie dann aufmerkten und dann etwas passierte … nun ja, bingo. Soweit es sie betraf, war ich ein Glücksbringer mit einem sechsten Sinn für Gefahr. Sie wissen, wie Soldaten sind, Chef. Soldaten sind ein abergläubisches Völkchen.«

»Gak«, sagte Soric ernüchtert. »Also war alles nur Schau. Der kleine Brinny, der seine Nummer abzieht, damit die Soldaten ihn lieb haben.«

»Nicht ganz«, sagte Milo. »Essen Sie das noch?«, fragte er mit einem Kopfnicken auf die halb verzehrte Teigrolle in Sorics Hand.

Soric schüttelte den Kopf und reichte sie Milo.

»Es gab Zeiten«, sagte Milo mit vollem Mund, »Zeiten, in denen alles Wirklichkeit zu sein schien. Ich weiß, dass Gaunt sehr besorgt war. Er wusste nicht, was er tun sollte. Wenn ich einen Makel an mir hatte, würde ihm keine andere Wahl bleiben, als mich hinrichten zu lassen, das war ihm klar. Aber er wagte es nicht.«

»Weil?«

»Ach, kommen Sie, Chef! Ich war der Junge, der Glücksbringer, der letzte noch lebende Zivilist von Tanith. Was hätte es wohl für die Moral der Geister bedeutet, wenn er mich erschossen hätte?«

»Ich verstehe, was Sie meinen …«

»Jedenfalls bekam dieser Inquisitor Wind davon. Varl hatte meinen Ruf ausgenutzt, um für ein paar Unterhaltungen auf dem Truppentransporter zu sorgen, und einige der anderen Regimenter wurden nervös. Ich wurde gemeldet. Und ehe ich mich versah, stand ich also vor diesem Inquisitor.«

»Das Vergnügen hatte ich noch nicht. War er ein gemeiner Hund? Ich habe gehört, dass sie das sind.«

»Er war eine Sie. Lilith. Aber ja, sie war ein gemeiner Hund. Hat mich in die Mangel genommen. Gaunt war dabei. Hat sein Bestes versucht, mich aus allem rauszuhalten.«

»Und?«

»Und … sie hat ihre Arbeit gemacht, Agun. Sie ist zur Wahrheit vorgedrungen und hat sie aufgedeckt. Sie hat herausgefunden, dass ich ein Blender bin, und mich bloßgestellt. Und deswegen bin ich noch am Leben.«

Soric atmete schwer und rieb sich die trockenen Hände. »Sie waren ein Blender …«

»Nicht absichtlich. Ich hatte angefangen, mir selbst zu glauben. Aber sie hat die Wahrheit herausbekommen. Und mir ist aufgegangen, dass ich mit dem Feuer gespielt hatte. Wenn das bei Ihnen auch so ist, Chef, hören Sie jetzt damit auf.«

»Ist es aber nicht«, sagte Soric. Er griff in die Oberschenkeltasche seiner Uniformhose und fischte eine zerknitterte Packung Lho-Stäbchen heraus.

»Ich dachte, Sie hätten damit aufgehört.«

»Habe ich auch«, sagte Soric, während er sich eines anzündete. »Die helfen bei den Kopfschmerzen. Ich habe manchmal diese Schmerzen im Kopf und in meinem blinden Auge.« Er hob die linke Hand und fuhr sich mit den Fingern über den vernarbten Kopf. »Das tut ziemlich weh.«

»Sie sollten Gaunt davon erzählen«, sagte Milo.

»Von meinen Kopfschmerzen?«

»Von allem. Sagen Sie es ihm. Wenn ich etwas über Gaunt weiß, dann, dass er kein Schwein ist. Er wird Sie beschützen. Er wird tun, was nötig ist, um Ihre Sicherheit zu gewährleisten, ohne die Gesetze des Imperiums zu brechen.«

»Die schwarzen Schiffe …«, murmelte Soric.

»Vielleicht. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich nicht berührt wurde. Und es auch nie war. Ich bin in keinerlei Hinsicht etwas Besonderes. Aber ich weiß, wie schwierig es werden kann, wenn man unter Verdacht steht. Also sagen Sie es Gaunt. Vielleicht steht deshalb auf dem Zettel, dass Sie mit mir reden sollen. Um sich einen guten Rat zu holen.«

Soric atmete Rauch aus. »Ich muss etwas unternehmen. Die Botschaften werden …«

»Was?«

»Dringlicher. Ich habe eine Warnung bekommen. Ich weiß nicht, was sie bedeutet, aber es wird schlimm. Ich muss es jemandem sagen … Gaunt, wer weiß? Aber wenn ich es ihm sage, ist das mein Ende. Leb wohl, Agun, schön, Sie gekannt zu haben. Ich weiß nicht, Brinny. Soll ich mich mehr um mich kümmern oder mehr um das Allgemeinwohl?«

Milo stand auf und wischte sich Krümel vom Schoß. »Ich glaube, Sie kennen die Antwort darauf, Chef.«

Milo wandte sich ab und entfernte sich über die Promenade.

Soric blieb noch einen Moment stumm sitzen. »Ist ja schon gut!«, zischte er, während er in seine Hosentasche griff. Der Messingzylinder hatte gezappelt wie eine Ratte.

Er schraubte ihn auf und fischte routiniert den Zettel heraus.

Neun sind unterwegs. Hör mit dem Blödsinn auf und sei ein Mann. Milo kann man trauen, aber er lügt. Er IST etwas Besonderes. Sag es ihm nicht. Ängstige ihn nicht. Die Zeiger der Uhr stehen auf Mitternacht.

 

»Ich nehme an, Sie haben einen Passierschein, Soldat?«

Milo blieb im Eingang der Schola wie angewurzelt stehen.

»Herr Kommissar?«

Hark trat aus dem Schatten. »Eine Ausgangsgenehmigung, die Ihnen erlaubt, sich aus Ihrem Quartier zu entfernen.«

»Die habe ich nicht, Herr Kommissar.« Hark nickte. »Mit wem waren Sie zusammen?«

»Mit niemandem, Herr Kommissar. Ich habe nur einen Spaziergang gemacht.«

»Mit Sergeant Soric. Ich habe Sie gesehen.«

»Es ist nichts, Herr Kommissar.«

Hark hob eine behandschuhte Hand und winkte Milo mit dem Finger zu sich.

»Ich beurteile, was etwas ist und was nicht. Ich habe ein Auge auf Soric geworfen.«

»Warum, Herr Kommissar?«

Harks Augen waren zusammengekniffen. »Meldungen. Ich habe nicht die Absicht, einem gemeinen Soldaten meine Quellen zu verraten.«

»Selbstverständlich nicht, Herr Kommissar.«

»Sie haben einen Schutzengel, Brin Milo. Die Tanither sind ganz vernarrt in Sie. Gaunt ist ganz vernarrt in Sie. Mich interessiert nur das Wohlergehen dieses Regiments. Seine Gesundheit … in seelischer und körperlicher Hinsicht … und in geistiger. Ich glaube, Sie würden mir wie jeder andere Geist sagen, wenn etwas – Falsches – vorginge. Das wäre Ihre Pflicht.«

»Das würde ich, Herr Kommissar.«

»Erzählen Sie mir von Soric.«

»Der Chef steht ein wenig neben sich, Herr Kommissar.«

»Er steht neben sich?«

»Er leidet unter Kopfschmerzen.«

»Und?«

Milo schüttelte den Kopf. »Und nichts. Kopfschmerzen.«

Milo erstarrte, als Hark einen zerknitterten blauen Papierfetzen aus der Manteltasche zog, ihn entfaltete und ihn dann so hielt, dass Milo ihn sehen konnte.

Darauf stand: Guheen bringt sich um, wenn er weiter in die Richtung geht. Der Panzer ist hinter dem Laden des Möbelschreiners.

»Ich habe keine Ahnung, was das bedeuten soll, Herr Kommissar«, sagte Milo.

»Soric ist vom Warp berührt, nicht wahr?«

»Nicht, dass ich wüsste, Herr Kommissar.«

»Wenn ich herausfinde, dass er es ist und Sie ihn gedeckt haben, geht es nicht nur um seinen Hals, sondern auch um Ihren. Klar, Soldat?«

»Kristallklar, Herr Kommissar.«

»Marsch in Ihr Quartier!«, schnauzte Hark.

Milo eilte weiter, und Hark drehte sich um und starrte zu der Fensterbeleuchtung entlang der Promenade empor. Oben im tiefen Blau leuchteten Sterne.

 

Einige der Sterne waren Schiffe.

Auf der breiten Brücke der Fregatte Navarre beugte sich der Erste Offizier Kreff in seinem gepolsterten Sitz vor und sagte: »Autorisieren.«

Die Brückenmannschaft nickte und machte sich an Konsolenschaltern zu schaffen. Ein leises Summen war zu hören, als die Gravo-Vorrichtungen im gewaltigen Bauch des Schiffs Magnetwellen bündelten und kreisen ließen, um die umlaufbahnbedingte Seitenabweichung zu kompensieren.

Ein Näherungsalarm fing an zu heulen.

Kreff seufzte missbilligend, stand auf und schlenderte zum Hauptpilotenstand, wo die Ruderservitoren in ausgesparten Bodennischen saßen. Die halbmenschliche Besatzung saß vornüber gebeugt da, und hinter ihren mit Stöpseln übersäten Schädeln wanden sich Schläuche wie Zöpfe.

»Entfernungsmessung«, befahl er.

»Minimal eins-null-eins«, krächzte der nächste Servitor mit seinem augmetischen Kehlkopf.

Mit einem Druck seiner Hand auf den Abdruckleser schaltete Kreff die Sirene aus. Die Umlaufbahn über Herodor war gerammelt voll mit Schiffen, von denen die meisten nur inoffiziell registrierte Pilgerkähne waren. Alle paar Minuten meldeten die Warnsensoren der eleganten Fregatte einen weiteren Beinahzusammenstoß. Es war zur Routine geworden.

Kreff ging in die Aktualitätssphäre in der Mitte der Brücke und betrachtete das Gefunkel leuchtender Schiffsphantome, die dreidimensional in der holografischen Kugel ringsumher zu sehen waren. Taktische Anzeigen leuchteten neben den verschiedenen Bildern und blinkten, während sie langsam ihre Position veränderten. Ein Großraumtransporter namens Troubadour, Teil einer soeben eingetroffenen Pilgerkarawane, trieb beständig in den Kollisionskegel der Navarre ab.

Das Kom summte. Es war der Kapitän.

»Der Alarm hat mich geweckt, Kreff.«

»Kein Grund zur Besorgnis, Herr Kapitän. Nur Routine.«

Kapitän Wysmark meldete sich ab.

»Der verdammte Riesenkahn wandert wieder …«, sagte Kreff.

»Die Troubadour gibt Signal«, sagte einer der Deck-Offiziere. »Sie haben ein Feuer an Bord. Ein größeres Feuer im Laderaum. Sie bitten dringend um Hilfe.«

»Prüfen Sie das.«

»Die Navarre registriert massive Hitze im Bereich des Laderaums. Sie verbrennen bei lebendigem Leib.«

Kreff nickte. »Feuerlöschtrupps in Bereitschaft. Rudermannschaft, näher heran, und sagen Sie der Troubadour, Andockmanöver steht unmittelbar bevor. Beeilen wir uns.«

»Soll ich die Truppen in Bereitschaft versetzen?«, fragte Oberst Zebbs, der oberste Rüstmeister des Schiffs, der hinter Kreff Haltung angenommen hatte.

»Es ist ein verdammtes Pilgerschiff, kein Feind«, sagte Kreff.

Fähnrich Valdeemer nahm die Datentafel von dem wartenden Deck-Servitor entgegen, überflog sie kurz und schritt dann zielstrebig über das Stahldeck der Omnia Vincit zur Kapitänskanzel. Links von ihm, wo der Rand des Brückendecks abfiel, saßen die vielen Dutzend Ruder-Servitoren, Techpriester und astropathischen Navigatoren in abfallenden Rängen wie in den obersten Reihen eines großen Theaters. Um ein Schlachtschiff von der Größe der Omnia Vincit zu fliegen, war eine gewaltige Besatzung erforderlich, allein schon auf der Brücke. Die Brücke selbst war riesig und kuppelförmig wie eine gigantische Basilika, und das hohe Dach war mit wunderbaren Fresken der Actes Sanctorum bemalt.

Valdeemer war nur ein kleiner Teil der Besatzung und außerdem als solcher noch nicht lange dabei. Er war erst vor achtzehn Monaten auf das Schiff gekommen, aber bereits Deck-Unteroffizier. Er wusste, dass er eine strahlende Zukunft hatte. Eines Tages würde er auf diesem wunderbaren Thron sitzen, bionisch mit den Schiffssystemen verbunden sein und im Namen des Imperators über die Macht eines Gottes gebieten.

Um dorthin zu gelangen, musste er glänzen. Sich hervortun. Seine Arbeit auf exemplarische Weise verrichten und dabei beachtet werden. Er hätte den Bericht auch über Kom an den Kapitän weiterleiten können, aber er war wichtig und für eine persönliche Übergabe geeignet. Außerdem würde er dadurch den Kapitän auf sich aufmerksam machen.

Er eilte die Alabastertreppe der Kanzel empor, blieb oben kurz stehen, da die Marinesoldaten ihn in Augenschein nahmen und mit ihren Geräten abtasteten, und wartete dann.

Flottenkapitän Esquine ängstigte jedes Besatzungsmitglied des riesigen Schiffs. Sogar Valdeemer fühlte sich trotz seines Selbstbewusstseins eingeschüchtert. Es war schwer zu sagen, wo der vergoldete Thron des Flottenkapitäns endete und sein Körper anfing. Er war in eine goldene Rüstung gehüllt, die kunstvoll geschmiedet und graviert war, und die Rüstung war direkt mit dem Thron verbunden, sodass alles zusammen ein solides Gebilde mit zahlreichen Gravuren ergab. Hände und Arme waren mit den Lehnen des Sitzes verschmolzen, und der Hinterkopf in seinem Goldhelm war fest mit der hohen Sitzlehne verbunden.

Esquines Hände lagen mit den Innenseiten nach unten auf den Thronlehnen, und nur seine golden bekleideten Finger bewegten sich, tanzten wie die eines Pianisten. Auf ihr Geheiß hoben und senkten sich vielgelenkige Servoarme vor den Augen des Flottenkapitäns und präsentierten ihm Bildtafeln, größere Aktualitätsschirme und Datentafeln. Der Flottenkapitän hielt sie in die Höhe, manchmal vier oder mehr zugleich, verglich, übertrug Daten mit einem Blinzeln von einer zur anderen und verband und komprimierte Informationen zu dichten holografischen Kugeln, die den Thron umschwebten.

Esquine hatte lange Brauen und edle Gesichtszüge. Seine Klinge von einer Nase war hakenförmig, und die Wimpern der hellen Augen waren weiß und beinahe unsichtbar. Goldene Schaltkreise schoben sich von den Rändern seines Helms zu Ohren, Wangenknochen und Stirn und waren darin eingelassen, was seinem Teint eine gelbliche Tönung verlieh. Der Mund war unsichtbar hinter dem Gitter eines Kom-Geräts verborgen, das sich von seinem vergoldeten Brustharnisch erhob wie eine Atemmaske.

Valdeemer glättete die makellose Front seiner Uniformjacke, schüttelte die mit Tressen verzierten Manschetten aus, richtete den Sitz der smaragdgrünen Schärpe und nahm Haltung an.

»Sie haben einen Bericht für mich, Fähnrich?«, fragte Esquine. Seine Stimme war weich und fließend, und jedes Wort klang wie ein abgerundeter Stein, der in einen tiefen Teich fiel.

»Herr Kapitän«, nickte Valdeemer und reichte ihm eine Datentafel.

Esquines Finger huschten über die Lehne, und ein Servoarm an der Seite des Throns fuhr aus, nahm die Tafel und schwang zurück, um sie dem Flottenkapitän vor die Augen zu halten.

»Von den Astropathicae«, fuhr Valdeemer fort. »Sie haben eine Störung im Warpraum ausgemacht, Warpmodulus elf zwo neun neun sieben, an einer Stelle …«

»Neun AE von Herodor entfernt. Ich kann lesen, Fähnrich. Ein normaler imperialer Ankunftsvektor.«

»Ich war der Ansicht, ich sollte Ihnen den Bericht umgehend bringen, Herr Kapitän.«

Da er festsaß, konnte Esquine den Kopf nicht drehen, aber seine blassen Augen betrachteten Valdeemer einen Moment von der Seite.

»Natürlich.« Esquines Blick kehrte zur Tafel zurück, und ein Servoarm kam mit einer anderen Tafel, um einen Vergleich zu ermöglichen. »Die Verstärkungsflotte nähert sich. Dieser Wurm Lugo wird zweifellos zufrieden sein. Bereiten wir uns also vor. Fähnrich, treten Sie auf die Thronplattform.«

Valdeemer blinzelte und schaute nach unten. Er stand auf dem Außendeck der Kommandokanzel. Der eigentliche Thron befand sich auf einer erhöhten Scheibe aus poliertem Plaststahl in der Mitte. Er trat rasch auf den Rand der Innenplattform.

Eine leichte Vibration war zu spüren. Die Scheibe setzte sich in Bewegung und glitt rückwärts. Das Adamantiumschott hinter dem Thron teilte sich mit dem Zischen sich öffnender Magnetschlösser, und die gesamte Thronplattform – und mit ihr Valdeemer – glitt durch die Öffnung.

Als der Schatten des Schotts über ihn hinwegstrich, spürte Valdeemer, wie die sich zurückziehende Thronplattform zusätzlich in eine Drehbewegung versetzt wurde. Nach einer Rotation von hundertachtzig Grad wies Esquines Thron nun zur geheimen gepanzerten Kammer hinter seiner Kanzel, dem Strategium.

Das Schott schloss sich und sperrte sie ein. Valdeemer spürte seine innere Erregung. Er war zum ersten Mal in dieses Allerheiligste der Befehlsgewalt eingeladen worden.

Die düstere, massiv abgestützte Kammer war oval. Techpriester und hohe Deck-Offiziere standen oder saßen vor Konsolen, die zwischen den Stützpfeilern in die Wände eingelassen waren, und sieben weitere hockten auf einem hohen Podium vor weiteren nach innen gerichteten Konsolen rings um die Aktualitätssphäre, die in der Mitte des Raums flackerte und leuchtete. Der Raum war vom beständigen Gemurmel des Korns, Maschinensprache und Cursorsignalen erfüllt.

Hier hatte Kommandant Velosade den Befehl. Er nahm Haltung an, als der Thron hereinrotierte, und rief: »Kapitän im Strategium!«

Jeder Anwesende salutierte zackig.

»Rühren und weitermachen«, sagte Esquine. »Zeigen Sie mir die Warpstörung, bitte.«

Velosade ließ seine Finger knacken, und eine Markierung aus malvenfarbenem Licht erschien in der unteren Hemisphäre der Aktualitätskugel.

»Verringern Sie den Maßstab und legen Sie die taktische Anzeige darüber«, sagte Esquine.

Die Aktualitätssphäre flackerte, löste sich auf und bildete sich neu, etwas umfangreicher und dafür ein wenig detailärmer. Valdeemer sah sofort, dass sie es mit einer dreidimensionalen Abbildung des gesamten inneren Systems zu tun hatten. Dort war der grelle Fleck der Sonne, an anderer Stelle Herodor und die vier inneren Planeten sowie das leuchtende Band des Asteroidengürtels. Die malvenfarbene Markierung lag außerhalb dieser Innengruppe und war ungefähr so weit von Herodor entfernt wie Herodor von der Sonne.

»Taktische Anzeige darüber legen!«, befahl Velosade.

Eine geometrische Gittergrafik floss in die Sphäre, die ein dreidimensionales Koordinatensystem in die Darstellung einbettete, und die Positionen von Esquines Schiffen – und auch die der unzähligen Pilger- und Handelsschiffe – tauchten als langsam treibende nummerierte Lichtpunkte auf.

»Bericht-Parameter der Astropathicae verifiziert. Störung in Warpmodulus elf zwo neun neun sieben, neun AE draußen. Erfassung ist definitiv. Konkordanz in geschätzten dreiundneunzig Minuten. Erwarten Bestätigung.«

Velosade drehte sich um und sah den Flottenkapitän an. »Befehle, Herr Kapitän?«

»Bleiben, wie sie sind, Kommandant. Kriegsmeister Macaroth hat uns angewiesen, extreme Vorsicht walten zu lassen. Schicken Sie eine Fregatte zum Moduluspunkt voraus, und zwar mit vollem Jagdschutz. Sie kann eintreffende Freunde begrüßen … oder eintreffenden Feinden den Weg versperren. Der Rest der Flotte bleibt in Bereitschaft.«

Ein Flattern von Esquines Fingern ließ Cursorpunkte auf der leuchtenden Sphäre erscheinen. Valdeemer wusste, dass der Kapitän das Wort »Flotte« ironisch benutzte. Ein Offizier von Esquines Rang – und ein Schiff wie die Omnia Vincit – konnte normalerweise auf eine beträchtliche Begleitflotte zur Unterstützung zurückgreifen. Doch Esquines Schlachtschiff hatte mit nur zwei Fregatten als Begleitung vom Kriegsmeister den Auftrag bekommen, Marschall Lugo als Zeichen seiner besonderen Hochachtung nach Herodor zu bringen, und die kürzlich eingetroffenen Tanither hatten nur eine Fregatte und einen Schweren Kreuzer als Begleitschiffe mitgebracht. Drei Fregatten, ein Kreuzer, ein Linienschiff und Flottentender – nicht schlecht für ein Flottenkontingent, aber nicht ausreichend für eine Raumschlacht.

»Informieren Sie die Oberfläche«, fuhr Esquine fort, »und alarmieren Sie den zivilen Verkehr, dass es ein Manöver gibt, Code Magenta, und dass wir mit ihrer Kooperation rechnen und damit, dass alle ihre Position halten, solange es andauert.«

Velosade nickte und fing an, Befehle zu erteilen. Die gesamte Strategium-Besatzung fing an zu arbeiten, und einige sprachen laut und dringlich in ihre Kom-Geräte.

»Welche Fregatte soll es sein, Herr Kapitän?«, fragte Velosade.

»Die Navarre«, erwiderte Esquine, ohne zu zögern.

»Die Navarre ist beschäftigt, Herr Kapitän«, sagte Valdeemer plötzlich und zuckte zusammen, als der Kommandant ihm einen scharfen Blick zuwarf, weil er sich ungefragt geäußert hatte.

»Lassen Sie ihn reden, Velosade«, sagte der Flottenkapitän. »Inwiefern beschäftigt, Fähnrich?«

»Ein merkantiler Transporter ist in Schwierigkeiten, Herr Kapitän. Die Navarre hat durchgegeben, dass sie sich der Sache annimmt.«

»Dann soll sie damit weitermachen«, sagte der Flottenkapitän. »Betrauen wir stattdessen die Berengaria damit.«

»Verstanden, Herr Kapitän«, bestätigte Velosade.

»Gute Einschätzung, Fähnrich«, sagte der Flottenkapitän leise zu Valdeemer. »Eine kleine Komplikation, die ich nicht berücksichtigt hatte. Sie können die Taktiksphäre gut lesen.«

»Ich halte mich gern auf dem Laufenden, Herr Kapitän.«

»Machen Sie so weiter«, sagte Esquine.

Valdeemer spürte, wie ihn ein Anflug von Stolz überkam.

 

Mit einem Zehntel der Kraft ihrer gewaltigen Antriebsmaschinen entfernte sich die Fregatte Berengaria von Herodor und flog tiefer in den interplanetaren Raum.

Wenngleich nur als Leichter Kreuzer klassifiziert, war sie nach allen Maßstäben gewaltig: ein langes, befestigtes, eckiges Schiff mit mattgrünem, stacheligem Rumpf. Fregatten der Klasse der Berengaria waren schnell und gut bewaffnet und eine der Hauptwaffen jedes ernst zu nehmenden Flottenkontingents.

»Wir haben die Umlaufbahn verlassen und fliegen zum angegebenen Modulus«, sagte Kapitän Sodak ruhig, der in der Aktualitätssphäre der Brücke der Berengaria stand.

»Signal gesendet und Empfang vom Flottenkommando bestätigt, Herr Kapitän«, erwiderte ein Fähnrich.

»Flugdecks?«

»Jagdschutz meldet Bereitschaft.«

»Zur Kenntnis genommen. Abschussrampen hochfahren.«

»Aye, Herr Kapitän.«

Sodak schaute auf die Warpmarkierung in den Tiefen der Lichtkugel vor sich. Sie wurde dunkler und tiefer.

»Startbefehl erteilen.«

»Startbefehl erteilen, aye!«

 

Winzige Lichtpunkte entfernten sich von den Flanken der Berengaria. Die Punkte rasten dem gewaltigen Kriegsschiff voraus. Beim Ausschwärmen reflektierten sie das Licht der entfernten Sonne, was ihnen das Aussehen einer Wolke von Glühwürmchen in der Dämmerung verlieh.

Es handelte sich um Raumjäger, schnelle, tödliche Ein-Mann-Boote, die mit Magnetkatapult aus den Jägerhangars der Fregatte ausgespien worden waren. In breiter Formation schwärmten sie vor ihrem gewaltigen Mutterschiff aus.

Geschwaderführer Shumlen, ein dreifach dekoriertes Ass und Führer der Jagdstaffel der Berengaria, ließ das Sichtgerät zurück an seinen Platz gleiten und flog mit seinem Jäger zum Scheitelpunkt des Fächers aus Begleitschiffen. Trotz der körperlichen Belastung des Starts und der seelischen Belastung der Aussicht auf einen Kampf zeigten die Messinstrumente, die seine Körperfunktionen überwachten, an, dass Shumlens Herzfrequenz überraschend ruhig und gleichmäßig war.

»Aufgefächert bleiben«, befahl er ohne jede Hast über Kom.

»Konkordanz in zweiundvierzig Minuten, abnehmend«, wurde ihm aus der Fregatte gemeldet.

 

Die Navarre erbebte, als ihre Andockklammern am Frachter Troubadour festmachten. Auf der Brücke der Fregatte ertönten Alarmsirenen und Gefahrenlampen blinkten.

Kreff stellte alles mit einem Winken seiner Hand ab. Er nahm einem wartenden Servitor das Kom-Sprechgerät ab.

»Luken öffnen. Volle Bereitschaft für die Rettungsmannschaften. Bringt die Verwundeten nach draußen. Sanitäter, zum Empfang der Verletzten bereithalten.«

»Erster?«

»Was gibt es denn?«, schnauzte Kreff ungeduldig.

»Diese Wärmequelle auf der Troubadour …« Der Adjutant sah verwirrt aus. »Sie ist nicht mehr da.«

»Nicht mehr da?«

»Wie weggeblasen. Ich nehme an, sie könnten das Feuer selbst eingedämmt haben …«

Kreff sah Zebbs an.

»Los«, sagte er, und der Soldat rannte zum Brückenausgang.

»Soll ich den Kapitän informieren?«, fragte der Adjutant.

»Nein!« Kreff stutzte. »Doch, ja. Wecken Sie ihn.«

Eine Abteilung Marinesoldaten erwartete Zebbs im Vorraum der Luftschleuse Mitte-Steuerbord. Der Oberst zog beim Eintreten seine Panzerjacke über. Die Abteilung, klobig in ihren smaragdgrünen Rüstungen, nahm Haltung an, die Schrotflinten in Bereitschaft und die Gesichter hinter getönten Visieren verborgen.

»Waffen sichern, aber wir gehen mit äußerster Vorsicht!«, sagte er, indem er von seiner Nummer zwei seine eigene Schrotflinte entgegennahm.

Er lud die Waffe durch und trat vor die Schleuse.

»Mitte-Zwo öffnen«, rief er.

Die Schleuse öffnete sich. Niemand war auf der anderen Seite. Auch keine Sirenen, kein Geruch nach Feuer und keine Panik.

Zebbs schritt hindurch. Seine Männer folgten ihm und schwärmten aus.

Im Gang war es dunkel und roch nach abgestandener Luft, als funktionierten die Reiniger nicht richtig. Zebbs war nicht überrascht. Dies war ein altes Schiff und schlecht gewartet. Es war ein Wunder, dass es den Flug durch den Warpraum überhaupt geschafft hatte.

»Der Boden ist nass, Herr Oberst«, sendete einer seiner Männer über Helmkom.

»Kühlmittelleck«, sagte ein anderer, vom Knistern des Korns begleitet.

»Meinen Sie?«, sagte Zebbs und schaute nach unten. Das Deck stand ungefähr zwei Zentimeter tief unter einer dunklen Flüssigkeit. Sie sah tatsächlich aus wie …

Irgendwo ertönte ein Platschen, als etwas in der Flüssigkeit landete und ihnen dann entgegenrollte. Es blieb zwischen Zebbs und seinem Führungsmann liegen. Sie starrten beide darauf.

Es war eine Granate.

»Scheiße«, schaffte Zebbs gerade noch zu sagen.

»Zebbs? Zebbs? Oberst, melden Sie sich!«, brüllte Kreff in sein Sprechgerät. Er hatte soeben ein lautes und jäh unterbrochenes Donnern über die Frequenz gehört, das alle Signale ausgelöscht hatte. Jetzt war nur noch dumpfes statisches Knistern und Rauschen zu hören.

»Reparieren Sie das!«, schrie Kreff seine Adjutanten an. »Ich will sofort mit Zebbs reden!«

Sie beeilten sich, seinem Befehl zu entsprechen. Einen Moment später bekamen sie von einer anderen Quelle Geschrei herein. Verwirrtes, irres Geschrei. Und das Krachen von Schüssen.

Voller Bestürzung ließ Kreff sein Sprechgerät sinken.

»Andockklammern lösen! Trennen Sie die Verbindung!«

»Die Klammern sind ausgesperrt, Erster!«

»Was? Was?«

»Die Andockklammern eins bis neun sind ausgesperrt, Erster«, sagte sein Adjutant.

»Beim Heiligen Thron, nein!«

»Gibt es ein Problem, Kreff?«

Kreff drehte sich um und sah Kapitän Wysmark durch die Brücke auf ihn zukommen.

»Wir … man hat uns geentert, Herr Kapitän«, sagte er.

Wysmark, groß und finster in seiner grünen Galauniform, wirkte ungerührt. Er nahm das Sprechgerät aus Kreffs zitternden Händen und sprach hinein.

»Soldaten zu allen aktiven Luftschleusen. Im Laufschritt. Eindringlinge zurückschlagen. Ich wiederhole, Eindringlinge zurückschlagen.«

 

Das All wölbte sich. Das All flimmerte und riss auf. Aus dem berstenden dunklen Gewebe zuckte das unergründliche Licht des Warpraums.

Aus der Bresche donnerten Schiffe in Sicht.

Zuerst kamen sie schnell, als seien sie aus der Realität des Chaos geschleudert worden, um dann zu einer gemächlicheren Fahrt abzubremsen. Imperiumsschiffe. Drei Munitoriumsfrachter, dann eine Fregatte der Flotte, dann vier weitere schwere Transporter.

»Offene Formation«, befahl Shumlen. »Das sind unsere. Wiederhole, es sind unsere.«

Der Jagdschirm löste sich rings um ihn auf. Die Jäger fächerten weit auseinander und jagten wie winzige silberne Schiffe an den Flanken der massigen Neuankömmlinge entlang. Im Kom wimmelte es plötzlich von Begrüßungssignalen.

»Bitte um Erlaubnis, zu den Hangardecks zurückzukehren«, sendete Shumlen.

 

»Die Fregatte Pracht von Cadia schickt Grüße und Empfehlungen«, meldete Sodaks Fähnrich.

»Antworten Sie dem Protokoll gemäß, Fähnrich.«

»Die Störung löst sich nicht auf, Kapitän«, rief ein Techpriester.

Sodak wäre auch überrascht gewesen, wenn sie es getan hätte. Sie erwarteten etwas in der Größenordnung von sechzehn Schiffen, und die Aktualitätssphäre zeigte nur acht an. Eine eintreffende Flotte kam oft in mehreren Wellen aus dem Warpraum.

»Weisen Sie die Pracht von Cadia an, ihre Schützlinge in die Umlaufbahn über Herodor zu eskortieren. Informieren Sie das Flottenkommando, dass wir hier auf Station bleiben, um die nächste Welle abzuwarten.«

»Jawohl, Herr Kapitän.«

»Was ist mit dem Jagdschutz, Herr Kapitän?«, fragte der für die Flugkontrolle zuständige Offizier von seiner erhöhten Panzerglaskonsole.

»Lassen Sie ihn draußen«, erwiderte Sodak. Er war ein vorsichtiger Mann. Ohne diese Vorsicht wäre er niemals alt genug geworden, um Kapitän eines Kriegsschiffs zu werden.

Ein Besatzungsservitor, klein und breit und mit funkelnden Schaltkreisen auf dem schwarzen Metall, wandte sich von seinem Posten ab und reichte Valdeemer eine Datentafel. Der Fähnrich eilte damit sofort zum Thron des Flottenkapitäns. Esquine beobachtete die Ankunft der Flotte am Konkordanzpunkt.

»Notmeldung, Herr Kapitän«, sagte Valdeemer besorgt. »Die Navarre.«

»Zeigen Sie her«, sagte Esquine mit seiner weichen Stimme.

»Sie werden von innen angegriffen«, sagte Valdeemer, als er einem der zugreifenden Servoglieder des Flottenkapitäns die Tafel reichte. »Kapitän Wysmark meldet, dass von dem Handelsschiff aus der Versuch unternommen wird, sein Schiff zu entern.«

»Nehmen Sie Verbindung mit Wysmark auf. Fragen Sie ihn, ob er Hilfe braucht.«

 

Kugeln jaulten durch den Niedergang und prallten von der metallenen Trennwand ab, was die Soldaten in Oberleutnant Epsins Trupp veranlasste, Deckung zu suchen. Etwas stimmte mit der Deckbeleuchtung nicht. Nur die kalt-grünen Notbeleuchtungsleisten waren an, und dem Geruch nach zu urteilen waren auch die Zirkulatoren nicht in Betrieb oder defekt.

Außerdem war ein Summen zu hören, sehr schwach, das kam und ging. Unterbrochene Kabel, dachte Epsin.

Noch eine Salve. Epsin sah die verformten Kugeln auf die Deckplatten fallen und ein Stück weit rollen. Sie sahen aus wie zerdrückte Stummel von Lho-Stäbchen.

Es war ungezielter Beschuss. Salven, aufs Geratewohl um Ecken und durch leere Gänge abgefeuert, um den Weg freizumachen.

»Feuer einstellen«, flüsterte Epsin. »Sie sollen glauben, dass der Weg frei ist …«

Hinter Schleusenpfeiler entlang des Niedergangs geduckt, warteten seine Männer mit nervösem Unbehagen und erhobenen Schrotflinten.

Der Feind erschien. Drei … dann vier, fünf … mannsgroße Schatten mit kurzen automatischen Waffen, die durch den Gang vor ihnen eilten.

»Feuer«, flüsterte Epsin.

Seine Flinte donnerte und hustete einen grellweißen Blitz in das matte grüne Licht. Andere Schrotflinten ringsumher taten dasselbe. Die Schatten vor ihnen brachen zusammen und wurden von der konzentrierten Feuerkraft heftig zurückgeschleudert. Beißender Rauch stieg auf und blieb wegen der defekten Zirkulatoren, wo er war.

»Vorwärts!«, befahl Epsin.

Die Abteilung Marinesoldaten eilte voran, dicht an die Metallwände des Niedergangs gedrückt. Beinahe sofort tauchten noch mehr Feinde in der Abzweigung vor ihnen auf und schossen mit automatischen Waffen in ihre Richtung. Epsins Führungsmann stieß einen Schrei aus und fiel seitlich gegen die Wand, wo er liegen blieb. Der Mann hinter ihm zuckte zurück, krümmte sich und fiel auf das Gesicht.

»Schweine!«, brüllte Epsin. »Für den Imperator! Für die Navarre!« Die Schrotflinte bockte in seiner Hand, und er schoss damit, was die Waffe hergab. Seine Abteilung hatte sich beinahe bis zur Abzweigung zur nächsten Luftschleuse vorgekämpft.

Und in diesem Augenblick hörte Epsin über die Schüsse hinweg wieder das Summen.

»Der Flottenkapitän fragt an, ob wir Hilfe benötigen, Herr Kapitän«, sagte Kreff.

Kapitän Wysmark wendete sich vom Monitor ab und seinem Ersten Offizier zu. »Was meinen Sie, Kreff?«

»Ich meine, uns steht ein höllischer Kampf entlang der Luftschleusen bevor, Herr Kapitän. Aber ich glaube nicht, dass der Flottenkapitän noch ein Fünftel seiner Flotte für eine Enteraktion abstellen will, wo wir gerade Alarmstufe Magenta haben und auf die Ankunft von Schiffen warten. Wir kommen zurecht. Die Soldaten der Navarre sind die besten in der Flotte.«

Wysmark lächelte unmerklich. »Genau meine Meinung. Senden Sie eine entsprechende Antwort an die Omnia Vincit. Noch fünfzehn Minuten, dann haben wir hier wieder alles unter Kontrolle.«

Kreff machte zackig kehrt und gab dem Kom-Offizier Anweisungen. Er kehrte wieder zu seinem Kapitän zurück.

»Was war das?«, fragte Wysmark.

»Herr Kapitän?«

»Das Summen. Haben Sie das nicht gehört, Kreff?«

»Nein, Herr Kapitän.«

Wysmark schüttelte den Kopf und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Monitor. »Das ist der Preis, den wir dafür bezahlen, Kindermädchen für das Pilgerschiff zu spielen.«

»Herr Kapitän?«

»Eine Masse unregistrierten, ungeregelten Verkehrs, der die Umlaufbahn verstopft und vollgepfercht ist mit Bürgern des Imperiums, die zu beschützen unsere Pflicht ist. Die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass es darunter auch Infiltratoren und Ketzer geben würde. Wir sind verpflichtet, einem Schiff in Not zu helfen, auch wenn es sich als Falle erweist. Gehört alles mit dazu, Kreff.«

»Ich frage mich, Herr Kapitän …«

»Was?«

»Warum gerade jetzt, Herr Kapitän? Wenn sich an Bord der Troubadour Ketzer befinden, dann sind sie seit drei Tagen hier in der Umlaufbahn. Warum haben sie sich ausgerechnet diesen Augenblick zum Handeln ausgesucht?«

»Das habe ich mich selbst gefragt. Ist es ein Zufall, dass wir Alarmstufe Magenta haben und unsere Kräfte aufgefächert sind?«

»Es gibt keine Zufälle, Herr Kapitän.«

Wysmark nickte. »Ich brauche eine Verisim-Verbindung zum Flottenkapitän.«

 

»Verisim-Verbindung wird hergestellt!«, rief Velosade. »Kapitän Wysmark von der Navarre.«

»Anzeigen«, sagte Esquine.

Ein Holobild von Kapitän Wysmark in halber Originalgröße wurde von den Holo-Transmittern im Strategium projiziert und erschien wie ein blassrotes Phantom vor dem Thron des Flottenkapitäns.

»Wysmark?«

»Ich wollte zu extremer Vorsicht raten, Flottenkapitän«, ertönte Wysmarks Stimme knisternd über die Kom-Verbindung. »Der Angriff, dem wir hier ausgesetzt sind, ergibt nur einen Sinn, wenn er Teil eines umfassenderen Plans ist.«

»Die Feinde der Menschheit sind nicht für ihre taktische Brillanz berühmt«, sagte Esquine.

Es gab eine geringe zeitliche Verzögerung, bevor Wysmarks Abbild nickte und über die Bemerkung lächelte. »Zugegeben, Flottenkapitän. Aber ich fürchte, das hier ist eine Strategie, die darauf abzielt, einen nutzbringenden Einsatz der Navarre zu verhindern.«

»Ich verstehe.«

»Ich möchte lediglich zur Vorsicht raten.«

»Zur Kenntnis genommen. Vielen Dank, Wysmark.«

Das Holobild verblasste. Esquine fixierte Velosade mit harten, blassen Augen. »Wysmark ist ein solider Kommandant, der nicht zu Überreaktionen neigt. Lassen Sie die Hauptbatterien scharf machen.«

 

Epsin drang durch den dichten Rauch vor, der von der Luftschleuse in den Gang wallte. Die Wände waren von Schüssen beschädigt worden, und mehrere Leichen lagen auf dem Boden. Schmutzige Männer in roter Rüstung, die schwarze Gesichtsmasken aus Eisen trugen.

Mehr als nur simple Ketzer, dachte Epsin.

Er winkte seine Männer nach oben. Aus dem Seitengang, der zu den anderen Schleusen führte, hörte er sporadische Schüsse.

Und wieder das Summen, dieses verdammte Summen. Wie ein Insekt in einem Glas.

Epsin sah eine Gestalt vor sich im Rauch. Eine hochgewachsene Gestalt …

Nein, drei Gestalten. Ein großer Mann im Grün eines Pilgers und einer Kapuze, der zwei kleinere Gestalten neben sich mit dicken, starken Armen festhielt, die über und über tätowiert waren. Die kleineren Gestalten waren in Lumpen gehüllt, zitterten und klammerten sich an den Mann in Grün wie verängstigte Kinder. Sie wandten ihm die Gesichter zu, und Epsin ächzte, als er ihre verdrehten, verwachsenen, augenlosen Visagen erblickte.

In perfektem Gleichklang öffneten sie den Mund, und das Summen wurde viel lauter, als sei der Deckel vom Glas abgeschraubt und das Insekt befreit worden. Epsin hustete und schwankte und schüttelte hektisch den Kopf, um sich von diesem Summen zu befreien.

Er wusste, was es war. Er versuchte das Helmkom einzuschalten und seinem Kapitän eine Warnung zu senden.

Der Soldat neben ihm, ein robuster Veteran, der seit neun Jahren in Epsins Mannschaft war, drehte sich langsam um. Sein Mund war schlaff, und er blutete heftig aus Nase und Tränendrüsen.

Er hob seine Schrotflinte und blies Epsin den Kopf weg.

 

»Konkordanz nunmehr in zwei Minuten«, tönte es über die Kom-Verbindung.

»Danke, Berengaria«, antwortete Shumlen, der ein wenig in der engen Umarmung seines Antigravsitzes wegkippte, als er den Jäger in eine enge Kurve legte. »Staffelführer an Elemente des Jagdschirms, zu einem zweiten Anflug um mich formieren. Weitere Schiffe im Anflug.«

Die Piloten des Geschwaders bestätigten, und die Maschinen der Staffel machten kehrt wie eine Schar dahinjagender Vögel und nahmen Kurs auf den berechneten Eintrittspunkt in den Normalraum, der sich etwa siebenhundertfünfzig Kilometer voraus befand.

Es war nichts zu sehen. Bei dieser Geschwindigkeit waren die Sterne nur verschwommene Streifen, und die Warpstörung, die einem Wiedereintritt voranging, war nur auf Instrumenten sichtbar.

Shumlen warf einen Blick durch sein Sichtgerät und sah die wirbelnde Kuhle aus Farben auf dem niedrig auflösenden Bildschirm anschwellen und flattern. »Waffen scharf machen«, sagte er.

Seine Herzfrequenz erreichte kaum den Ruhepulswert.

Zum zweiten Mal in weniger als einer Stunde riss der Weltraum auf. Der Riss im Realitätsgefüge knisterte und wand sich wie ein leuchtender Kopffüßer. Ranken aus Warpenergie peitschten in den Realraum, griffen aus, flackerten und verblassten. Nicht-baryonisches Licht flammte grell durch den Riss und erleuchtete die eintreffenden Schiffe von hinten. Monumentale Silhouetten schossen in den Realraum.

Sie wurden nicht langsamer. Sie hielten ihre Fahrt. Angriffsgeschwindigkeit.

Shumlen blinzelte. Die eintreffenden Schiffe waren nur Punkte vor dem grellen Schein vor seinem Geschwader, aber sein Feinderkennungssystem fing an zu jaulen und zu pfeifen.

»Feinde, Feinde, Feinde«, sagte er kategorisch. »Wir haben feindliche Schiffe im System, die auf dem Vormarsch sind. Staffelführer an Elemente des Jagdschirms … auf Angriffsgeschwindigkeit beschleunigen.«

»Feinde gemeldet!«, verkündete der Fähnrich mit einem Zittern in der Stimme.

»Kampfstationen«, sagte Sodak. Die Sirenen fingen an zu jaulen. »Schilde hochfahren. Batterien scharf machen. Energie auf Hauptlanzen.«

»Schilde hochgefahren!«

»Jäger greifen an«, meldete die Flugkontrolle.

Sodak starrte auf die flackernden Bilder der Aktualitätssphäre. »Vergrößern. Sorgen Sie für ein klareres Bild.« In der gegenwärtigen Auflösung überlagerten sich die Zielcursor und die Dispositions-Icons. Codenummern sprangen hin und her und blinkten.

»Zehnfache Vergrößerung, aye!«, sagte der Fähnrich.

Das taktische Bild vergrößerte sich rapide. Es sah nach drei Feindschiffen aus, möglicherweise vier, aber die überlagernden Icons des Jagdschutzes machten es sehr schwierig, die Einzelheiten zu erkennen.

»Blenden Sie die Icons der Jäger aus«, schnauzte Sodak, und ein Adjutant löschte die Darstellung des Angriffsgeschwaders der Berengaria.

Vier Schiffe. Eins davon sehr groß. Und sie waren schnell. Nullkommasiebenfünf Licht mindestens und mit direktem Kurs auf Herodor.

»Maschinenraum«, sagte Sodak. »Abfanggeschwindigkeit, bitte. Reaktorleistung auf neunzig Prozent. Letzter Bereitschaftsruf für die Waffen.«

»Waffen in Bereitschaft. Alles grün.«

»Feuerleitstellen für alle Batterien und Lanzen. Den großen Brocken aufs Korn nehmen.«

»Aye, Herr Kapitän.«

 

»Feinde, Flottenkapitän«, sagte Velosade. »Vier Echos. Wir vermuten, drei Kreuzer und ein Großkampfschiff.«

»Position halten.«

»Die Berengaria greift an.«

»Position halten«, wiederholte Esquine.

»Ruf von der Pracht von Cadia, Flottenkapitän«, rief Valdeemer. »Sie bitten um Erlaubnis, zur Unterstützung der Berengaria beidrehen zu dürfen.«

»Verweigert. Ich will sie hier bei uns haben. Lassen Sie sich den Befehl bestätigen.«

»Jawohl, Herr Flottenkapitän.«

»Status?«, fragte Esquine.

»Sonnenwende meldet Bereitschaft. Laudate Divinitus meldet Bereitschaft.«

»Und die Navarre

»Immer noch mit internen Kämpfen beschäftigt, Herr Kapitän.«

Esquine verstummte. Ringsumher, über das Maschinencode-Geschnatter im Strategium hinweg, hörte er die Priesterschaft des Schiffs ihre Segen sprechen, um den Sieg im Kampf zu gewährleisten. Über das Interkom-System wurde das imperiale Glaubensbekenntnis gesendet.

»Kampfstationen«, sagte Esquine weich. Grellrote Lampen begannen zu blinken, und eine jaulende Alarmsirene ertönte. Esquine spürte, wie ihn ein Schauder überlief, als ihm die Neurostecker, die ihn mit den Schiffssystemen verbanden, die vielfältigen Reaktionen eines imperialen Kampfschiffs übermittelten, das in volle Kampfbereitschaft versetzt wurde. Esquines Herz pochte, als die Reaktoren auf volle Leistung hochgefahren wurden, seine Finger zuckten, als sich die Waffenbatterien feuerbereit machten, und seine Haut kribbelte, als die Schilde aufflackerten und sich stabilisierten. Er schloss die Augen und erlebte rauschartig eine Ausdehnung seines Sehvermögens, als Energie von unwichtigen Systemen abgezweigt und den Hauptsensoren zugeführt wurde.

Er schaute und sah den Feind kommen.

Die Leere war vom Gleißen der Feuerbälle und Lichtfäden erfüllt. Shumlen raste unter dem Beschuss der vorderen Schiffsabwehrbatterien durch und flog unter dem Bauch des Großkampfschiffs her.

Es war gewaltig, mindestens so groß wie die Omnia Vincit, ein Chaos-Schlachtschiff, dessen schwarzer Rumpf derart mit Geschütztürmen und Schildmasten übersät war, dass es krank und blasig aussah. Drei Chaos-Kreuzer begleiteten es, furchterregend schlanke Kriegsschiffe mit gezacktem Rumpf. Zwei waren rot und golden lackiert, der Dritte schwarz mit geriffelten weißen Aufbauten.

Der Jagdschutz der Berengaria hatte die Schiffe frontal angegriffen, um die Winkel für den Beschuss zu minimieren, die den feindlichen Kanonieren offen standen, trotzdem hatte Shumlen infolge des massiven Abwehrfeuers bereits ungefähr dreißig Maschinen verloren. Jeder Pilot wusste Bescheid. Sobald sie den Feind erreicht hatten, kämpfte jeder für sich. In einem derart wirren Kampfgebiet gab es keine Hoffnung auf Formationstaktiken.

Shumlen blieb so dicht am Rumpf, wie er es gerade noch wagte. Er feuerte eine Rakete ab, war aber längst vorbei, als sie schließlich explodierte, sodass er nicht sagen konnte, welchen Schaden sie angerichtet hatte.

Ein Jäger taumelte dicht vor ihm vorbei und veranlasste ihn zu einem kurzen Ausweichmanöver, als sein Kollisionswarnsystem kurz aufjaulte. Der Jäger fiel förmlich auseinander, da er wie ein Komet der ungeschlachten Oberfläche des Schlachtschiffs entgegenraste.

Impulslaser verfolgten Shumlen und löcherten die Dunkelheit mit gleißenden Strahlen. Er warf den Jäger in eine enge Linkskurve, sah einen hoch aufragenden Raketenturm voraus und feuerte seine zweite Rakete ab. Die Explosion blendete ihn, und sein ganzes Schiff wurde heftig durchgeschüttelt.

Ein Jäger näherte sich ihm, bis sie beinahe im Formationsflug unterwegs waren, und explodierte dann, als ihn die Impulslaser der Abwehrbatterien fanden. Weitere zwei Jäger flogen über ihn weg und am Unterbauch des Schiffes entlang, den sie dabei unter Beschuss nahmen. Shumlen verlor sie in dem Feuersturm aus den Augen.

Shumlen hörte mit halbem Ohr eine Sendung im Kom.

»Wiederholen, wiederholen«, sagte er. Sein Puls kletterte ein wenig.

»Feindjäger!«, wiederholte einer seiner Staffelkameraden.

Der Feind hatte seinen Jagdschutz gestartet.

 

Von den flackernden Lichtblitzen des rings um sie tobenden Jägerkampfes umgeben, flogen die Chaos-Schiffe weiter.

»Die Ergebnisse der Archivsuche sind da, Herr Kapitän«, sagte Persson, Sodaks taktischer Offizier.

Sodak ging die Daten durch. Zwei der feindlichen Kreuzer waren eindeutig identifiziert worden: die Cicatrice mit ihren weiß geriffelten Aufbauten und die Wiedergänger, deren Rumpf rot-golden war. Der dritte Kreuzer war entweder die Lauf der Gefahr oder die Wundnaht. Die Identität des Schlachtschiffs konnte nicht genau ermittelt werden, denn diese Giganten wurden sehr viel seltener gesehen, aber Perssons Vergleichsprogramm mutmaßte, bei dem Raumgiganten könne es sich um die Inkarnadine handeln, ein uraltes und berüchtigtes Schiff.

»Feuerleitstand? Haben wir eine Zielerfassung?«

»Zielerfassung und Entfernung, Herr Kapitän«, erwiderte Adept Yarden.

»Feuer!«, knurrte Sodak.

Das Deck unter ihm bebte ein wenig. Lichtstrahlen aus den Lanzen und Hauptbatterien stachen in die Dunkelheit.

»Hauptbatterien abgefeuert. Lanzen abgefeuert. Torpedos unterwegs.«

Auf dem Augurskop flackerten Lichtpunkte um den dunklen Rumpf der sich nähernden Inkarnadine.

»Schaden?«

»Ihre Schilde haben gehalten, Herr Kapitän«, meldete der Feuerleitoffizier.

»Zweite Serie, Feuer!«

Die Berengaria erbebte wieder.

»Dritte Serie, Feuer!«

»Die Torpedos haben das Ziel erreicht, Herr Kapitän.«

»Schaden … geben Sie mir irgendwas, Yarden!«

Der Feuerleitoffizier sah aus dem Feuerleitstand zum Kapitän herüber.

»Es tut mir Leid, Herr Kapitän. Nichts.«

»Die Wiedergänger bricht aus der Formation aus, Herr Kapitän!«

Sodak richtete seine Aufmerksamkeit auf die Aktualitätssphäre. Einer der Feindkreuzer beschleunigte von den anderen drei Schiffen weg und flog voraus.

»Greift er uns an?«, fragte ein Fähnrich.

»Nein«, antwortete Sodak. »Sie wollen sich den Geleitzug holen.« Der Kurs der Wiedergänger zielte eindeutig auf die langsam fliegenden Munitoriumsschiffe ab, die zuvor aus dem Warpraum gekommen waren.

»Kurs halten. Alle vorderen Batterien und Lanzen Feuer frei auf das Primärziel. Torpedos auch, bitte. Wenn die Wiedergänger uns passiert, sollen die Flankenbatterien das Feuer auf sie eröffnen.«

»Aye, Herr Kapitän«, erwiderte Yarden, um dann seinen Kanonieren und Servitor-Mannschaften entsprechende Anweisungen zu geben.

Die Wiedergänger kam wie ein interstellares Raubtier angeschossen und schien ihren Kurs beim Passieren der Berengaria minimal zu verändern, als wolle sie Sodak verhöhnen. Während die Hauptbatterien der Fregatte weiter nach vorn schossen, leuchtete nun auch ihre Backbordseite strahlend hell auf, als die Flankenbatterien das Feuer eröffneten. Die Wiedergänger erwiderte im Vorbeifliegen das Feuer aus ihren eigenen Flankenbatterien, aber eher oberflächlich.

»Wir haben sie getroffen, Herr Kapitän. Geringfügiger Rumpfschaden. Nicht genug, um sie zu verlangsamen.«

»Und wir?«

»Schilde haben gehalten.«

»Nehmen Sie Verbindung zum Flottenkapitän auf und verifizieren Sie seine Anweisungen. Sollen wir den Angriff fortsetzen?«

Die Brücke erbebte plötzlich, und Schadenssirenen fingen an zu heulen.

»Die Inkarnadine hat das Feuer auf uns eröffnet, Herr Kapitän. Geringfügige Schild-Schäden.«

Der Fähnrich war kaum verstummt, als das Schiff wieder erbebte. Mehrere Besatzungsmitglieder verloren den Halt und fielen zu Boden, und das Sirenengeheul wurde lauter. Der Hauptkonsole konnte Sodak entnehmen, dass sie einen schweren Treffer im oberen Rumpf erlitten hatten. »Mäßige Schäden, Löcher im Rumpf, Feuer auf einigen Decks …«

»Hilfsenergie auf die Schilde!«, rief er.

Die Berengaria gierte, als sie wieder getroffen wurde. Und wieder.

Die Pracht von Cadia war dem Geleitzug, den sie eskortierte, vorausgeeilt. Als sie sich Herodor näherte, schwenkte sie Esquines entschiedenem Befehl folgend in weitem Bogen herum und bezog Stellung in der Schlachtformation bei der gewaltigen Omnia Vincit und ihren kleineren Schwesterschiffen, der Sonnenwende und dem schweren Kreuzer Laudate Divinitus. Hinter und unter ihnen bildeten die unzähligen Pilgerschiffe ein wildes Durcheinander kleiner, verwundbarer Ziele in den obersten Atmosphärenschichten von Herodor. Trotz der eindeutigen Befehle Esquines hatten einige der Schiffe die Umlaufbahn bereits verlassen, um zu fliehen. Manche befanden sich schon im interplanetaren Raum und waren unterwegs in Richtung Sonne und zu den weiter entfernten Bereichen des Systems. Wieder andere verbargen sich in geo-synchronen Umlaufbahnen hinter Herodor in der Hoffnung, den Planeten zwischen sich und den entsetzlichen Angreifern halten zu können.

Auf ein Zucken von Esquines Fingern gab eine Hecklanze der gewaltigen Omnia Vincit einen Schuss ab und beschädigte den Kauffahrer Schlafwandler, als dieser versuchte, den Anker zu lichten und die Umlaufbahn zu verlassen.

Mehr Zeit und Feuerkraft gedachte der Flottenkapitän nicht zu vergeuden. »Nehmen Sie noch einmal Verbindung mit der zivilen Flotte auf, Velosade. Wir werden jede weitere Missachtung der Befehle auf ähnliche Weise bestrafen. Ich lasse nicht zu, dass nicht-militärische Schiffe die Angelegenheit mit unbefugten Manövern komplizierter machen, als sie ohnehin schon ist. Sagen Sie ihnen, jede Zuwiderhandlung zwingt uns zu der Annahme, dass sie ketzerische Agenten an Bord haben, was uns wiederum dazu zwingt, das Feuer auf sie zu eröffnen.«

»Jawohl, Herr Kapitän!«

»Die Berengaria ist in Schwierigkeiten, Herr Kapitän«, flüsterte Valdeemer.

»Das sehe ich selbst, Fähnrich. Wir halten die Position. Wenn wir ihr helfen, verlieren wir unsere Formationsinitiative. Sodak weiß, wann er kämpfen und wann er abbrechen und sich absetzen muss.«

Valdeemer runzelte die Stirn. Er wusste, dass Sodak einen unzweideutigen Angriffsbefehl erhalten hatte, der nicht die Möglichkeit beinhaltete, nach eigenem Gutdünken zu handeln.

»Soll ich ihn davon in Kenntnis setzen, Herr Kapitän?«, fragte Valdeemer.

»Nein«, sagte der Flottenkapitän.

 

Auf neun Decks brannte es, ein Reaktor war beschädigt, und die Schilde standen kurz vor dem Zusammenbruch. Für die Lanzen gab es nicht mehr genug Energie.

»Torpedos!«, befahl Sodak.

»Torpedos, aye!«, rief Yarden.

»Schalten Sie diesen verdammten Alarm aus«, fügte Sodak hinzu. Überall jaulten einander überlappende Sirenen. Er konnte stechenden Qualm riechen. Rauch sammelte sich in den Belüftungssystemen, zu dick und dicht, um von den Luftreinigern aufgezehrt werden zu können.

Das gewaltige feindliche Kriegsschiff war jetzt genau vor ihnen und so nah, dass Sodak es tatsächlich als Punkt durch die Panzerglasfenster der Brücke sehen konnte.

»Halten Sie uns gerade! Halten Sie uns mit der Nase genau auf Kurs!«, rief er den Ruderoffizieren zu. Die Panzerung der Fregatte war am Bug am stärksten. Er wollte dem Feind nicht die Flanken zeigen. Außerdem wollte er weiterhin ein so kleines Ziel wie möglich bieten.

»Aye, Herr Kapitän!«

»Wir gieren, Ruder!«

»Die Flugstabilisatoren sind beschädigt, Herr Kapitän. Wir versuchen, das manuell auszugleichen …«

Die Inkarnadine schoss wieder auf sie. Sodak blieb nicht einmal die Zeit, die Salve im Augurskop zu registrieren.

Die Berengaria stampfte unkontrolliert, Teile des oberen Rumpfs splitterten in einem Regen von Mikrofragmenten weg. Auf der Brücke fiel die Energie für ein paar Sekunden aus, als die vordere Ruderposition von einer Explosion erfasst wurde, die drei Ruderoffiziere, fünf Servitoren und Taktikoffizier Persson einäscherte.

Yarden war noch auf seinem Posten. Aus einer Splitterwunde in seiner Brust spritzte Blut, und auf seinen Lippen bildeten sich blutige Blasen, als er einen Lagebericht zu geben versuchte, während sich seine tropfenden Hände an der Schadenskontrollkonsole zu schaffen machten.

Sodak war die Lage klar, obwohl Yarden nicht mehr Bericht erstatten konnte, die Aktualitätssphäre ausgefallen und die Augurskope tot waren. Sie waren tödlich verwundet und ruderlos und drehten sich jetzt langsam unter der Wucht des Treffereinschlags, um den Schiffsungeheuern des Erzfeindes die Steuerbordseite zu präsentieren.

»Signalspruch an die Omnia Vincit«, rief Sodak. »Spruch beginnt … Der Imperator beschützt …«

Eine Torpedosalve der Lauf der Gefahr traf die Berengaria mittschiffs, und ihr folgte einen Moment später ein Lanzentreffer der Inkarnadine. Die Berengaria schien für einen Moment zu flackern und zu zucken, als sich Plasmafeuer wie Lava ihre geborstene Flanke entlangkräuselte.

Und dann verdampfte sie in einer Schockwelle aus expandierendem weißen Licht.

 

Im Strategium der Omnia Vincit hätte Valdeemer das Todesflackern der Berengaria beinahe übersehen. Er starrte in entsetzter Faszination auf die Aktualitätssphäre und sah mit an, wie die Feindfregatte, die Wiedergänger, den verzweifelten Geleitzug einholte. Die Anzeige-Icons zweier Großraumtransporter flackerten und erloschen. Die anderen versuchten den Geleitzug aufzulösen und sich zu verteilen, aber das Schiff des Erzfeindes war direkt hinter ihnen.

»Kontingent rückt geschlossen vor«, rief Esquine. »Schlachtformation. Rufen Sie Wysmark und sagen Sie ihm, er soll aufhören, Zeit zu vergeuden. Wir brauchen die Navarre jetzt.«

In einer weiten, einheitlichen Linie rückten die vier imperialen Kriegsschiffe mit hochgefahrenen Schilden vor, um sich dem feindlichen Angriff zu stellen und ihn zurückzuschlagen.